Soweit die Beine tragen, so lange wird Schneeweißchen laufen bis sie den, den sich sucht, endlich wieder gefunden hat. Auch, wenn sie bis ans Ende der Welt laufen muss, um diesen einen, der das Böse in Person war, zu finden. Sie weiß nicht, woher dieser Drang in ihr kam diesen einen zu finden, obwohl die Stute ganz genau wusste, dass er ein Monster ist. Er war nie der Vater, den sie sich für ihre Kinder gewünscht hatte und doch hat sie vier Fohlen das Leben geschenkt. Schneeweißchen hatte sich einen Vater für ihre Kinder gewünscht, der so war, wie ihr Vater. Trotz strenger Erziehung, für diese sie mehr als dankbar war, war er ihr immer ein liebvoller Vater gewesen. Wie konnte sie sich so in diesem Hengst verlieben? Hals über Kopf. Liebe auf den ersten Blick. Wenn es Schneeweißchen einmal schlecht ging, erinnerte sie sich immer an den Tag, an dem sie diesem Hengst begegnet war. Diese Begegnung hatte ihr komplettes Leben verändert. Wie ein Held in letzter Sekunde hatte er sie gerettet. Aus heiterem Himmel war er vor ihr erschienen, verteidigte eine fremde Stute vor einem Rudel böser Wölfe und stiel nebenbei ihr wundervolles Herz. Schneeweißchen konnte nichts machen, nichts gegen ihre starken Gefühle ihm gegenüber. Nichts konnte sie davon abhalten, sich in diesen Hengst zu verlieben. Aber sie konnte nicht wissen, dass sich hinter dieser liebvollen Fassade ein Monster verbarg.
Und nun. Nun war sie auf der Suche nach ihm. Nach dem Hengst, der den Namen Cargi trägt. Ein schlechtes Omen, wie die meisten denken, die seinen Namen hören. Vielleicht wünscht er jedem den Tod an den Hals, wenn er nicht nach seiner Pfeife tanzt. Jedem, nur nicht seiner Schneeweißchen. Doch, vielleicht auch nur, weil sie sich ihm unterfügt, stets auf ihn hört, aber nicht seine Gedanken in Taten umsetzt. Oder sie hatte einfach nur Glück gehabt, als sie in einer Nacht und Nebel-Aktion abgehauen war. Denn auch eins wusste sie ganz genau. Keine Stute ließ er je am Leben, noch nicht einmal seine Töchter. Und genau aus diesem Grund gaukelte sie ihm vor, dass zwei seiner Fohlen Totgeburten waren. Date Mee und Honey, seine zwei bezaubernden Töchter. Nur so konnte sie ihre geliebten Töchter vor dem sicheren Tod retten. Mit liebevollen Herzen zog sie die Beiden auf und es viel ihr schwer diese einem weiteren Monster auszuliefern. Doch Final war tausendmal besser als Cargi, auch wenn es nie so schien. Schneeweißchen steckte ihren Töchtern das Final ihr Vater war, und verlor kein Wort über ihren leiblichen Vater Cargi. Es war besser, so wie es in diesem Moment war und die Stute hoffte, dass ihre Töchter ihr dies einmal verzeihen würden.
Schneeweißchen ist von Grund auf gut, war nie böse und wird nie böse sein. Ihr großes Herz ist rein, voller Liebe. Voller Liebe für Cargi und ihre vier Kinder. Egal, wie tief das Monster in ihm schlummerte, Schneeweißchen hatte sich es zu Lebensaufgabe gemacht, dieses Monster endlich zu verbannen und das Gute in diesem Hengst heraus zu locken. Zu ihr, seiner Gemahlin, war er stets lieb, vielleicht in manchen Situationen nicht immer zärtlich, aber wenn er es tat, dann tat er es mit Liebe, da war sich die Stute sicher. Cargi würde sie nie verletzen, weder körperlich noch seelisch. Er liebte sie, auch wenn sein Herz kalt und hart, wie Stein war. Allerdings musste die Stute schon früh feststellen, dass es nicht wert war ihr Leben so von diesem Hengst abhängig zu machen. Es gab Momente, in diesen sie sich wünschte, dass er sie einfach umgebracht hätte; zu sehr hatte sie sich für ihn aufgeopfert. Es war es einfach nicht wert, und so floh sie eines Nachts. Und nun? Nun, war sie wieder auf der Suche nach ihm, mehr oder weniger. In erster Linie wollte sie ihre Töchter nach langer Zeit endlich wiedersehen; genau wie ihre zwei Söhne.
Schneeweißchen hatte aufgehört die Tage, die Wochen, wenn nicht sogar Monate, zu zählen wie lange sie schon unterwegs war. Über Wiesen, durch Flüsse und Wälder war sie galoppiert. Immer weiter, so lange ihr Herz nur einen Takt schlug. Den Takt der innigen Liebe. Die Liebe zu ihren Töchtern, die sie einfach verlassen hatte. In ihr schlug das Herz einer Löwin, die sich immer wieder in den Weg stellen würde, wenn jemand ihr eigen Fleisch und Blut bedrohen würde. Ohne zu zögern würde sie ihr Leben für das ihrer Töchter geben. Sie konnte es nicht steuern, nicht vermeiden, dass ihre Töchter irgendwann ihren leiblichen Vater kennenlernen würden. In dieser Hinsicht war sie machtlos gegen das Universum. Sie konnte es zwar so lange wie möglich hinauszögern, aber früher oder später war sie machtlos. Sie hatte Angst, dass Date und Honey sie dafür hassen würden, dass sie sie angelogen und sie einfach zu Final abgeschoben hatte. Allerdings waren die Beiden bei ihm sicher, denn Schneeweißchen wusste nicht, ob Cargi sie verfolgen würde. Es musste eine Schande für ihn gewesen sein, als die Stute, die ihm zwei gesunde männliche Nachkommen geschenkt hatte, einfach verschwunden war. Nicht mehr da, spurlos verschwunden. Entweder war er rasant vor Wut gewesen, oder es war ihm einfach egal. Doch es war Vergangenheit, nun zählte nur noch die Gegenwart. Und, das Schneeweißchen endlich wieder ihre zwei Töchter an sich schmiegen konnte.
Elegant und federleicht setzte die Stute einen Huf vor den anderen, während sich diese zaghaft in die weiße Schneedecke bohrten. Ihre ausmerksamen Augen blickten sich um, während der eisige Wind ihre sanft gelockte Mähne zerzauste. Hier, auf dem Feld, war die Grauschimmelin dem harten, kalten Winter schonungslos ausgenutzt. Stetig schwebten Schneeflocken vom Himmel herab, legten sich sanft auf die Landschaft und vor allem auf ihren Körper nieder. Die eisige Kälte war unerträglich, und doch brachte sie nicht von ihrem Ziel ab, ihre Töchter wieder zu finden. Und, deren brutalen Vater; die großes Liebe ihres Lebens. Ihre Bewegungen wurden langsamer, je länger der heulende Wind ihren Körper umschloss. Die Kälte wurde immer unerträglich, machte ihre Glieder taub, bis sie schließlich zum Stillstand kam. Ihr dunkles Augenpaar wanderte über das weite Feld, wo keine Wesen zu erblicken war. Jedoch, in nicht allzu weiter Ferne erkannte Schneeweißchen eine dunkle Silhouette, die sie als maskulinen Artgenossen einschätzte. Von ihrem Standpunkt aus, konnte sie sich nicht sicher sein, wer dieses Pferd war; der stetige Schneefall machte die Sicht auch nicht wirklich besser. Der Stute blieb nichts anderes, als ein wenig Tempo aufzunehmen, um zu diesem fremden Pferd zu gelangen. Und wer, vielleicht wusste der Fremde, wo sie ihre Töchter finden konnte. Ja, vielleicht war er ihnen hier, in diesem Tal, sogar über den Weg gelaufen.
Langsam, vor allem bedacht, schritt Schneeweißchen an das fremde Tier heran. Je näher sie kam, desto bewusster wurde ihr, dass sie sich gerade in aller Ruhe einem fremden Hengst näherte, der ihr nicht allein, nur ein Haar krümmen konnte. Doch der Wille, so ihren Töchtern vielleicht einen gewaltigen Schritt näher zu kommen, trieb sie an, zu diesem fremden Pferd zu gelangen. Mit gutem Abstand blieb die Stute so stehen, dass er sich unmittelbar umdrehen musste, um ihr in das Gesicht zu blicken. „Guten Tag, mein Herr.“, erklang ihre glockenklare Stimme durch den eisigen Wind, verstummte in der Ferne. Entschlossen, und selbstbewusst. Sie wusste immer, was sie wollte und wie sie es bekommen würde. Niemals schwach, immer stark. Vor allem dann, wenn man dem Pferd gegenüber stand, für das man durch die Hölle gegangen war; es aber nicht wusste und es sich niemals vorstellen konnte, ihm in diesem Moment so nah zu sein. |