Seelendieb
Die lange Reise war beendet. Es war ein Gefühl, das tief in der Seele von Rabenfeder aufflammte, als sie dieses Reich betreten hatte. Die weiße Magie, welche durch ihre Venen floss, hatte an neue Energie gewonnen. Je tiefer sie in dieses unbekannte Reich vordrang, desto mehr erweckte die helle Energie ihre müden Knochen. Es waren punktuelle Schübe, manchmal mehr und manchmal weniger. Für Rabenfeder war es unerklärlich, auch, wenn sie im Besitz der weißen Magie war. Zwar, von Geburt an, aber nach all den Jahren war es trotzdem schwer eine Einheit mit dieser geschenkten Gabe einzugehen. Sie verdankte ihr Leben und somit auch ihre magischen Fähigkeiten einer stummen, weißen Hexe; auch ihre Fellzeichnung in Form von weißen, unregelmäßigen Flecken auf ihrem schwarzen Fell ruhte von dem neuen Lebenshauch. Während Rabenfeder wohlbehütet bei ihren Eltern aufwuchs, hielt sich die weiße Hexe immer in der Nähe ihres Schützlings auf. Bereits in jungen Jahren bemerkte Rabenfeder ihre magische Begabung, konnte aber nicht wirklich damit umgehen, was vor allem die Eltern mitbekamen. Irgendwann waren sie ratlos, hatte ihrer geliebten Tochter alles erzählt, was sie von dieser Begegnung nach ihrer Geburt wussten. So kam die Zeit, vor der sich die Eltern immer gefürchtet hatten, was nur ein komisches Gefühl in der Magengegend war, wurde zur Wirklichkeit. Die Hexe, von jener Nacht, trat aus dem Versteck des Waldes, der die kleine Lichtung umgab. Ein weiches, freundliches Lächeln lag auf ihren feinen Gesichtszügen, während sie sich der kleinen Familie näherte. Es war schwer, sehr schwer. Vor allem ihre Eltern empfanden diesen Abschied für immer, während Rabenfeder allein das Unbekannte, das Abendteuer vor Augen hatte. Der Abschied fiel tränenreich aus, ehe sie ihre Nüstern zum letzten Mal aneinander schmiegten. Ein letztes Wiehern am Waldesrand, ehe Rabenfeder vergnügt hinter der weißen Hexe hersprang. Ein großes Abendteuer, welches er später seinen hohen Zoll zahlen würde.
Nun, war Rabenfeder hier. Wieder eine unbekannte Welt, wieder ein Abendteuer. Sie war zu alt für Abenteuer, und wollte lieber sesshaft werden; eine Familie gründen, wenn dies möglich war. Vielleicht am Ende ihrer Reise? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es sich so anfühlte, als wäre sie endlich angekommen. Rabenfeder schnaubte, blickte um sich. Es war eine vollkommen fremde Umgebung und trotzdem bewegte dieses Reich etwas in ihr. Sie schritt einfach weiter, als würde ein unsichtbares Band die Stute in eine bekannte Richtung ziehen. Es war weder gespannt, noch schnürte es ihr die Kehle zu. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Der Regen prasselte ausgiebig auf ihren gescheckten Körper hinab, ließ ihre Mähne in leichte, feuchte Wellen fallen. Sie war nicht der Freund von Regen, aber auch nicht der Freund von Sonnenschein. Wenn man solch eine Mähne und einen Schweif, wie Rabenfeder besaß, mochte man am liebsten 20 Grad, keine Regen und windstill. Dennoch mochte die Stute ihre wallende Mähne und ihr geschecktes Fell sehr und würde sich kein anderes Äußeres wünschen. Sie war glücklich, und das war im Leben sehr viel wert; vor allem wenn man schon gute 100 Jahre auf dieser Welt verweilte.
Die Muskulatur bebte, das Herz schlug fast aus dem Takt. Es war soweit, sie war an ihrem unbekannten Ziel der langen Reise angekommen. Aufmerksam drehten sich ihre Ohren mit dem Wind, der neue, unbekannte Geräusche in ihre Richtung trieb. Stimmen drangen an ihre Ohren, Silhouetten tauchten in ihrem Blickfeld auf. Sie war nicht allein. Aber, was viel wichtiger war, sie verspürte Magie. Ja, es lag Magie in der Luft. Ja, sie war endlich angekommen. Ob sie hier willkommen war, konnte sie nicht sagen, würde sich in wenigen Minuten herausstellen.
|