In diesem Moment, fühlte sich Scarlett so frei, wie nie zuvor. Keine Bodyguards. Kein Vater, der ihre Aktivitäten mit dem Handy überwachte. Niemand wusste, wo sie sich aufhielt; und wahrscheinlich wurde gerade nach ihr gesucht. Keine Spur, würde die Polizei jemals zu dieser Hütte mitten im Wald führen. Sie konnte nicht sagen, ob sie Christian dankbar war, oder viel mehr Angst hatte. Angst, vor dem, was noch kommen würde. Gegenüber ihrem Entführer empfand sie lediglich Respekt, wusste ganz genau, dass sie ihm gegenüber nicht den Bogen überspannen sollte. Klar, er würde sie niemals umbringen. Dafür war die Blonde in seinen Augen zu wertvoll; sie war die Ware, die ihm eine Menge Geld einbringen würde. Allerdings hieß es nicht, dass er sie nicht verletzten würde, wenn sie ihm auf die Nerven gehen würde. Im Grunde konnte sie nur abwarten und hoffen, dass sie lebend aus der ganzen Sache wieder rauskam. Fühlte sich die Freiheit wirklich so an? So eingeengt in einer Hütte mitten im Wald, an einem Ort, den sie nicht kannte und dies zusammen mit einem Schwerverbrecher? Irgendwie schon, dass musste sich Scarlett wirklich eingestehen. Egal, was er in seiner Vergangenheit verbockt hatte. Egal, warum er Dinge getan hatte, die ihn ins Gefängnis gebracht hatten. Und vor allem, egal, dass er sie irgendwann ausliefern würde. Christian war immer noch ein Mann, und nicht einmal unattraktiv. Klar, ihre Eltern würde sie verstoßen, wenn ihre wohlerzogene Tochter einen Mann, wie Christian – rein vom Äußerlichen – nach Hause bringen würde. Was, aber nicht hieß, dass sie mit solch einem Mann im Bett war; über Nacht geht leider schlecht.
Scarlett erhob ihr zierliches Köpfchen, hielt kurz inne, ehe ihr Blick dem Mann mit der Wodkaflasche in der Hand folgte. War sie so anstrengend, der er sich einen Schluck Alkohol gönnen musste? So lange er sich nicht um den Verstand trank, war es der Blonden egal; und vor allem die Finger von ihr ließ, wenn er im Rausch war. Selbst, wenn Christian betrunken war, hätte sie rein körperlich keine Chance gegen ihn. Zudem würde man wahrscheinlich mehr als eine Flasche Wodka benötigen, um den Mann ins Koma zu bringen. Schneller als gedacht, hatte Christian die Flasche geleert, während der Fernseher im Hintergrund summte. Sie konnte nicht wirklich sagen, ob er bereits verändert war. Sie wusste nur, dass sie längst tot wäre, wenn sie in solch kurzer Zeit eine Flasche Wodka ausgetrunken hätte. Was nicht hieß, dass sie sich ab und zu auch ein alkoholisches Getränk genehmigte; in Maßen und nicht in Massen, wie es ihr Entführer gerade getan hatte. Wenn es sein Gewissen beruhigte, soll er ruhig so viel trinken, wie er dafür benötigte. Allerdings, war sich die junge Frau nicht allzu sicher, ob Christian überhaupt ein Gewissen besaß. In Anbetracht ihrer Situation, wohl eher weniger.
Das blaue Augenpaar ruhte auf dem Körper des jungen Mannes, der seine Unterarme auf die Oberschenkel abgestützt hatte. In diesem Moment wirkte er verletzlich, gar erschöpft. So, als würde ihm bewusst werden, welche Last er auf seinen Schultern Auftrag für Auftrag trug. Kurz verfiel Scarlett ihren unsortierten, irren Gedanken. Sie wusste genau in welcher aussichtslosen Situation sie sich befand und trotzdem war sie innerlich die Ruhe selbst. Vollkommen gelassen und nicht im Geringsten beunruhigt über ihre derzeitige Situation. Es war so paradox, da jeder in ihrer Situation vollkommen die Nerven verloren hätte; was sie durchaus verstehen würde.
Christian erhob sich von der Couch, was ihre Aufmerksamkeit schlagartig in den Bann zog. Scarlett verharrte weiterhin auf ihrem Stuhl - viele Alternative gab es in der Hütte ja nicht – während er sich zur Tür bewegte und diese öffnete. Ja, er öffnete die Tür; einfach so. Im Grunde musste die Blonde nur losrennen, um an der offenen Tür ausgeknockt zu werden. Reine Provokation. Es war so verlockend an die frische Luft zu gelangen, und doch nur eine Illusion. Es bewies, wie sehr er sie in der Hand hatte, und ihr immer ein Schritt voraus sein würde. Es tat weh. Dieser Gedanke tat einfach nur schmerzlich weh. Und, im Grunde konnte sie es nur mit einer Entscheidung ändern; und war von dieser Entscheidung nicht einmal abgeneigt.
Scarlett seufzte, erhob sich von dem Stuhl und schritt federleicht zur offenen Tür. Sie hatte den Gedanken längst verworfen, gewaltsam aus dieser Hütte zu fliehen. Denn sie war klug und wusste, dass sie es niemals schaffen würde. Die Blonde konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob sie es nicht einmal versuchen würde ihren Entführer zu entkommen. Und, was ihr wirklich Angst machte, dass sie sich wirklich sicher war, dass sie auch fliehen wollte. „Da die nächsten Tage uns wohl alleine gehören, kannst du mir ja was von dir erzählen.“, schlug Scarlett lächelnd vor; duzte ihn zum ersten Mal. Es war ein ehrliches, herzliches Lächeln, das auf ihren wohlgeformten Lippen lag. Christian wusste ja genug von ihr, sonst hätte er sie nicht entführt. Er war ihm Vorteil; auch, wenn er nicht alles von ihr wusste. So, war auf jeden Fall ihre Vermutung. „Du weißt ja genug von mir, aber ich weiß nichts von dir.“ Der zierliche Körper kam wenige Meter vor der offenen Tür zum Stillstand. Sie wollte ihm deutlich machen, dass sie es nicht versuchen würde, da sie wusste, dass das der falsche Weg war, um in die Freiheit zu gelangen. „Außer, dass du ein Schwerverbrecher bist, der kleine Mädchen entführt, um an Geld zu gelangen.“
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