Viper war enorm sensibel, wenn es darum ging, Nuancen herauszuhören. Und was sie bei ihrem fremden Gegenüber in der Stimme vernahm, erweckte in ihr sowohl Misstrauen, als auch Neugierde. Sie hatte eigentlich genug von Persönlichkeiten, die etwas verbargen, zu viel Leid hatte ihr das schon gebracht. Auf der anderen Seite - war sie anders? Eigentlich keinen Deut. Jeder hatte in seinem Leben eine Vorgeschichte und die wenigsten waren bereit, mit all ihren dunklen Geheimnissen herauszurücken. Deswegen beließ sie es erst einmal bei diesem seltsamen Gefühl in ihrer Magengegend. Sie würde den weiteren Verlauf dieser Begegnung einfach auf sich zukommen lassen, vielleicht wurde sie ja mit der Zeit schlauer aus dem Fremden. Wenn das überhaupt von Bedeutung war. Womöglich sahen die beiden sich nur an diesem lauen Wintertag und danach würden ihre Wege sich nie wieder kreuzen. Wer wusste das schon? „Oh, so geheimnisvoll.“, bemerkte sie dennoch leicht schnippisch, denn einen kleinen Kommentar zu seinen dramatischen Worten konnte sie sich nicht verkneifen. Sie zwinkerte jedoch spielerisch, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. Viper konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gezwinkert hatte. Das wäre dann vermutlich bei ihrem letzten Zusammentreffen mit ihrem Jugendfreund Ukiyo gewesen. Der Gedanke an den herzensguten Fuchs versetzte ihr einen Stich. Doch nicht ein Hauch dieses kurzweiligen Schmerzes zeichnete sich auf ihrem feinen Gesicht ab.
Da half es, dass auch der Fremde sich vorstellte, um wenigstens nicht mehr ganz fremd zu sein. So konnte Viper sich auf etwas anderes konzentrieren, als verflossene Freunde. Sie nickte nur zur erneuten Begrüßung, um zu verdeutlichen, dass sie seinen Namen verstanden hatte. Sie hatte schon so viele Namen gehört, gewöhnlich, wie auch ungewöhnlich und dieser reihte sich irgendwo in der Mitte ein. Oh, mit ihren nächsten Worten schien die Rote wohl einen Nerv getroffen zu haben. Als sie Sencillos Blick folgte, wurde ihr aber klar, was er meinte. Da sie nicht blind war, war es ihr auch schon selbst aufgefallen. Die Langeweile hing wie ein unheilvoller Nebelschleier über dem Tal. Ob sie sich deswegen direkt Krieg und Verwüstung wünschen sollte war dagegen eher fraglich. Vor genau diesen Umständen war sie ja schließlich aus ihrem alten Leben geflüchtet. Dass sie diese selber herbeigeführt hatte, musste ja keiner so genau wissen. „Meinst du es gibt nichts Spannendes im Leben außer Blutvergießen und Verderben?“, es war kein Angriff den sie da startete, sondern eine ernst gemeinte Frage. Entweder wollte sich der Buckskin hier theatralisch aufspielen, oder aber er lechzte tatsächlich nach diesen schrecklichen Zuständen. Sie legte ihren Kopf leicht schief, um sich den Hengst genauer zu beschauen. Er war kräftig gebaut und gut genährt, schien gepflegt und gesund. Hatte er je wirkliches Leid erfahren, dass er solche Aussagen mit voller Ernsthaftigkeit tätigen wollte? Bei genauerem Hinsehen erblickte sie einige Narben, doch die wenigsten stachen hervor. Vielleicht hatte er einige Spaßeskämpfe hinter sich, oder kleine Auseinandersetzungen gehabt. Er war sicher ein verwöhnter kleiner Junge, der im Leben mal etwas wahrhaft Abenteuerliches erleben wollte. Doch war sie so nicht vor wenigen Jahren auch selbst gewesen? Sicherlich. Und dafür hatte sie teuer bezahlt. Aber sie alle hier waren auf der Welt, um ihre eigenen Erfahrungen zu machen und so sagte Viper nichts weiter dazu. Er war jung und durstig nach Leben, das wollte sie ihm lassen. Und schließlich sah man ihr die Kampferfahrung am Körper ebenfalls nicht an. Deswegen wollte sie nicht allzu voreilig ein Urteil über den Braunen fällen. Vielleicht steckte hinter seiner Fassade noch mehr. Sie war nicht die einzige, die ihre Vergangenheit zu verbergen wusste.
Die fuchsrote Stute merkte ganz genau, dass Sencillo hinter ihren unbedeutenden Worten mehr vermutete, als sie ursprünglich durchschimmern ließ, aber das war ihr recht egal. Sie war nicht hier, um mit Fremden über ihre Vergangenheit zu tratschen und sicherlich entsprach es nicht seiner Definition von spannend, wenn sie über die Historie ihrer beider Leben sinnierten. „Nun, was schlägst du also vor, um dem langweiligen Trott hier zu entkommen?“, fragte Viper keck und ihre Augen funkelten in einer wilden Mischung aus Herausforderung und spielerischer Leichtigkeit. Sie war gespannt, was Sencillo so zu bieten hatte, denn bei seiner schlechten Laune musste er ja wohl eine genaue Vorstellung von Spaß haben. Und sie fühlte das erste Mal seit Jahren die schreckliche Last, all die Sorgen und Trübseligkeit von sich abfallen. In diesem Moment ging es einfach Mal nicht um all die schrecklichen Dinge, in diesem Moment ging es nur darum, ein Stück ihrer alten Persönlichkeit wieder aufleben zu lassen. Zu atmen und zu leben. Vielleicht wäre es genau dieser Wunsch, der die beiden in diesem Augenblick verbinden konnte.
Es hörte sich fast schon an, als würde der Fremde sie mit seinen kühlen Worten rügen wollen, doch für solcherlei Zurechtweisungen war Viper nicht empfänglich. Irgendwie amüsierte es sie sogar, denn der Stute war es herzlich egal, wie laut sie an diesem Tag durch den Wald stob. Der Hengst schien sich nicht darum zu bemühen, ihr mehr als sein Hinterteil zuzuwenden und sofort kamen ihr Bruchteile ihrer Ausbildung in den Sinn. Sie begann zu analysieren, begann zu sehen, wo seine Schwachstellen waren, wo er am verwundbarsten war. So wie sie den Buckskin in den ersten Sekunden einschätzte, war es nicht die Position, die ihn am verletzlichsten machte, sondern seine Arroganz. Ja, er schien Erfahrung zu haben in Kampf und Taktik, sonst wäre er nicht so desinteressiert und ruhig. Oder aber sie lag ganz falsch und sein Leben war ihm einfach nichts wert. Sie hielt es nicht für notwendig auf eine Phrase zu antworten, die ihr nicht einmal ins Gesicht gesagt worden war und so wartete sie einfach ab.
Und sie sollte für ihre Geduld belohnt werden. Denn nach wenigen Augenblicken drehte sich der Fremde auch mit seinem Antlitz zu ihr um und bezeichnete sie doch tatsächlich als hektisch. Viper musste schmunzeln und zwang sich dazu, keine Nuance von Abfälligkeit in ihrer Miene mitschwingen zu lassen. Na wenn der so weiter machte, konnte das ja heiter werden. Auf der anderen Seite war sie in diesem Moment wohl das Gegenteil von ruhig und gelassen, sie würde ihm verzeihen, dass er noch nicht bemerkte, dass in jeder ihrer Bewegungen Präzision und Energie lag, keine Hektik. „Ich habe kein festes Ziel. Ich habe mich nur gefragt, ob in diesem Tal noch eine andere Seele lebt, als ich selbst. Anscheinend bin ich fündig geworden.“ Gut, sie war nicht wirklich auf der Suche nach einem anderen Pferd gewesen, aber war es nicht genau das, was sie sich insgeheim gewünscht und erhofft hatte? Schließlich wollte sie einen Neustart, das alte Leben zurücklassen. Und auch, wenn sie ihre Jugend abgeschieden in den Höhlen des Heimatgebirges verbracht hatte, so hatte sie gefallen an Gesellschaft gefunden. So lange hatte sie sich genau diese doch verwehrt. Würde sich das nun ändern? Und viel wichtiger noch, war der Bucksin vor ihr überhaupt der richtige Umgang? Mittlerweile hatten sich seine Ohren wenigstens leicht nach vorne bewegt und pressten nicht mehr zwanghaft in den Nacken. Viper selbst hatte mit dem Ohrenspiel aufgehört und sie offen nach vorne aufgestellt. Sie verspürte keinen Deut Unsicherheit und das durfte der Fremde auch gerne mitbekommen. Wobei sie ihn höchstens für kratzbürstig, nicht aber für beschränkt hielt.
Als er dann begann sich mit Blick und Aufmerksamkeit von ihr abzuwenden und nur beiläufig eine Frage stellte, als wolle er gar keine richtige Antwort darauf, zog Viper die imaginäre Augenbraue hoch. Sollte sie überhaupt ihre Zeit hier verschwenden? Der Junge vor ihr hatte wohl entweder keine Kinderstube erhalten, oder war schlichtweg dreist. Oder sollte das Ganze eine Herausforderung sein? Allerdings fühlte Viper sich nicht wirklich auf den Schlips getreten. Wenn er mit ihr so umging, würde er es vermutlich mit jeder beliebigen anderen Person ebenfalls tun. Sie ging also unerschrocken einfach ein paar Schritte näher und kam nur wenige Meter vor dem Fremden erneut zum Stehen. Sie hatte sich dafür entschieden, einfach normal zu antworten – patzig konnte sie immer noch werden. Sie war in Laune, dem Braunen eine Chance zu geben. „Viper. Über mich gibt es nicht viel zu wissen.“ Jahre der Schauspielkunst erlaubten es ihr, glaubhaft eine Note der Unbeschwertheit in die Stimme zu legen. Es gab so unendlich viel über sie zu wissen, doch Viper war sich nicht sicher, ob sie je jemandem von ihrem Vorleben erzählen würde. „Und wie sieht es mit dir aus? Hast du Spannenderes zu erzählen?“ Sie sparte es sich zu fragen, ob er gerade in einer bockigen Teenagerphase war, denn so verhielt er sich körpersprachlich in diesem Moment.
Einige Tage waren seit der skurrilen Begegnung mit Mercy vergangen und ließen Viper mit gemischten Gefühlen zurück. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie ihren verhassten Lehrmeister in der verlassensten Einöde dieses Planeten getroffen hatte und so war sie kurz davor, es dem Schicksal in die Schuhe zu schieben. Auf der anderen Seite: Glaubte sie überhaupt an so etwas wie Schicksal? Doch die junge Fuchsstute war nicht in der Stimmung, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Damit hatte sie sich die letzten quälenden Jahre genug befasst. Obwohl es so paradox schien, war sie nach dem Zusammentreffen ungewohnt erfrischt. Als wären ihre Lebensgeister durch etwas Reibung erwacht. Das Gespräch mit dem schwarzen Teufel hatte ihr nämlich eines klar gemacht, was sie in all der Abgeschiedenheit der letzten Zeit nicht hatte wahrhaben wollen. Sie würde kein Sklave ihrer Gedanken und Vergangenheit mehr sein. Sie würde die Schuld nicht länger mit sich herumtragen, und noch mehr – sie würde sie gar nicht annehmen. Ja, sie hatte Schreckliches vollbracht und sie würde die Untaten nie mit Stolz tragen. Aber sie würde auch nicht an ihnen zerbrechen. Es war ein fester Entschluss, den sie in den letzten Tagen gefasst hatte und das war es, was ihr neue Kraft gab. Ihre Augen hatten wieder an Glanz gewonnen, schauten fast schon herausfordernd in die Welt. Sie war noch immer eine andere als damals, nicht mehr so unbeschwert, nicht so herzensgut verspielt und naiv, aber auch die Schwere der letzten Monate hatte sie nun verlassen. War es vielleicht sogar ein wenig Trotz, der in jedem ihrer Schritte spielte? Gegen wen oder was wusste sie nicht, aber dennoch wirkte Viper wie unter Strom. Es juckte ihr im ganzen Körper, etwas zu erleben – auch wenn sie nicht den Finger darauf halten konnte, was genau das war.
So vergaß sie auch alle Vorsicht, denn was gab es schon zu fürchten? In ihren Augen hatte sie den Teufel bezwungen, denn er hatte keine Macht mehr über sie. Es war ihr egal, wie viel Lärm sie bei jedem Schritt machte und so ließ sie das lichter werdende Unterholz achtlos unter ihren Hufen knacken. Schwungvoll legte sie einen Gang zu, trabte federleicht über das tote Meer aus Ästen, ließ die Muskeln spielen. Wie lange hatte sie das schon nicht mehr gemacht? Wie lange war es her, dass sie in jeder Bewegung wirkliche Lebendigkeit gespürt und diese zugelassen hatte? Es versetzte sie in eine lange vergessene Ekstase und schnell verfiel sie in einen gestreckten Galopp, halsbrecherisch in diesem Gelände, doch wie schon in ihrer Jugend hatte sich die Fuchsrote ihre Trittsicherheit stets bewahrt.
Doch unweit von ihr erwachte der Wald zu neuem Leben, welches sie trotz der Schönheit des Tales nicht für möglich gehalten hätte. Es war ein Fremder, der seinen eigenen Launen zu unterliegen schien und Viper verlangsamte nur mäßig ihr Tempo. Sie hatte keine Angst vor ihm oder vor einer Konfrontation, irgendwie reizte sie dieser Gedanke sogar. Wenige Meter von dem Buckskin entfernt kam sie tänzelnd zum Stehen, schlug leicht mit dem Kopf, um ihrer Energie Luft zu machen. Der Hengst konnte sie unmöglich übersehen haben und sie überließ es ihm mit neugierig spielenden Ohren, aus einem zufälligen ‚über-den-Weg-laufen‘ eine richtige Begegnung zu machen. Bot er vielleicht die Möglichkeit, in diesem bisher so seelenlosen Tal einen wirklichen Neustart zu beginnen?
Das erwartete Rügen ihrer Worte war nicht eingetreten. Fast schon wurde Viper stutzig, musterte den Hengst eingehend, doch dieser schien nachdenklich, peinlich darauf bedacht, keine Regung auf seinem vernarbten Gesicht zu zeigen. Was ging wohl in ihm vor? Sie konnte nur mutmaßen. Sie konnte nicht ahnen, dass er tatsächlich einen Funken Zuneigung ihr gegenüber verspürte und vielleicht war es auch besser so. Was hätte sie sonst wohl aus dieser Information gemacht? Nach all der Zeit war er noch immer die erste und vermutlich einzige richtige Bezugsperson gewesen, die sie je gehabt hatte. Eine schreckliche Vorbildfigur, aber seine Lehren waren in sie eingebrannt. Sie wollte ihn für seine Taten verabscheuen, aber da war ein winziger Teil in ihr, der Mercy ehrlich bemitleidete und ihm einfach nur wünschte, ein ruhiges und behütetes Leben zu führen. Ein Teil, den sie in diesem Moment aber nicht einmal selbst wahrnahm. Ihre Miene war abwartend und die Reaktion des Schwarzen ließ auch nicht allzu lange auf sich warten. Ihre Ohren spielten überrascht und für einen kurzen Augenblick fragte sich Viper, ob ihr Gehör ihr einen Streich spielte. Doch die Stimme des Dunklen drang klar und deutlich zu ihr herüber, es war kein Zweifel, dass er etwas aussprach, was einem Lob in seiner Sprache am nächsten kam. Sie versuchte gar nicht erst die Überraschung aus ihrem Blick zu bannen, ansonsten ließ sie allerdings keine Regung zu. Freude, Wut? Sie wusste selbst nicht ganz recht, was sie fühlen sollte. Sonderlich geschmeichelt war sie allerdings nicht. Mit jedem Wort, das er ausstieß, wurde ihre Skepsis größer. Was sollte das? Noch nie hatte sie ihn so erlebt und sie wusste, dass Mercy aus vielen Motiven handeln konnte. Und dies in allerlei Facetten. Waren seine Worte ehrlich gemeint? Sie wollte es so gerne glauben, wollte glauben, dass die Zeit ändern und heilen konnte. Wenn er sich ändern konnte, dann wäre es für sie doch auch noch möglich? Sie suchten nach Antworten in seinem Blick, doch der war nur blank. Als Provisorium vor ihr aufgestellt, jeglicher Gefühle und Emotionen entledigt. Sie antwortete nicht auf sein Lob, nicht auf seine ‚Erkenntnis‘, wie sie gereift war, wie er sie unterschätzt hatte. Sie vermied auch jede anderweitige Reaktion, selbst das Misstrauen. Sie wollte herausfinden, was er vorhatte, wollte dem kleinen Kunststück nicht verfallen, wollte wissen, worum es dem Schwarzen wirklich ging. Hin und wieder nickte sie auf seine Ausführungen, als Art kleine Anerkennung seiner Worte. Sie wollte nicht wirken, als sei sie vor Schreck erstarrt. Als er das Wort mit einer Frage schließlich an sie übergab, erhob sie zum ersten Mal nach seinem plötzlichen Stimmungswechsel ihre klare Stimme: „Einen Neuanfang. Das erhoffe ich mir hier.“ Es war die Wahrheit. Sie log nicht, versuchte nicht zu tricksen, denn er würde ihrer Meinung nach mit dieser Information herzlich wenig anfangen können. Was wollte er schon tun? Ihr nachrennen und jedem Wesen im Tal davon erzählen, was sie getan hatte? So stünde ihr Wort gegen seines, es gab für ihn keine Möglichkeit ein neues Leben ihrerseits zu manipulieren. Das glaubte Viper zumindest. Eine eigene Frage brannte ihr jedoch in diesem Moment dringlicher auf der Seele. Noch immer bohrte sich ihr Blick fest in den Seinen, der noch immer so schien, als wäre Mercy gar nicht wirklich darin anwesend. Dieses Detail entging der Stute nicht, doch würde sie einen Teufel tun und ihn darauf ansprechen. „Doch sag du, was hat dich hierhergeführt? Oder hier gehalten? Was sind deine Pläne?“ Sie war sich fast sicher, dass sie eine Lüge aufgetischt bekommen würde, auch wenn sie hoffte, dass er sich einfach zur Ruhe gesetzt hatte. Was blieb ihm in seinem Zustand auch anderes übrig? Aber sie hoffte inständig, dass auch Mercy dazu in der Lage war, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Durfte man sie für diesen Wunsch verrückt nennen?
Der Wind schien deutlich aufzurauen und ließ Vipers Mähne unkontrolliert von einer Seite zur anderen schlagen. Es schien als würde die Natur sie warnen, sie in Richtung Tal zerren wollen, damit sie bloß so viel Abstand wie möglich von diesem Wesen fand. Es verhieß sicherlich nichts Gutes Mercy hier zu treffen. Für niemanden. Falls in dieser Umgebung irgendwelche Seelen wohnten, dann wären sie besser beraten, sich niemals in dieses Gebirge zu wagen. Wobei das für jedes normale Pferd auch ohne den schwarzen Teufel ein fast sicheres Todesurteil wäre. Komischerweise schienen weder sie noch ihr Kontrahent sich über die Gefährlichkeit dieser Umgebung großartig Gedanken zu machen. Doch wie sollte Viper sich auch über die Klippen neben sich den Kopf zerbrechen, wenn vor ihr eine so viel größere Bedrohung stand? All ihre Sinne waren darauf ausgerichtet, den dunklen Hengst zu analysieren, jede seiner Regungen haarscharf aufzunehmen. Er hielt sein vernarbtes Gesicht frei von jeder Emotion, etwas, in dem er schon immer ein Meister gewesen war. Die eigenen Gefühle so zu verbergen, das wahrlich schwierigste Fach. Vermutlich fiel es dem Rappen nur so leicht, weil er gar keine Gefühle mehr besaß, abgestumpft war, hart wie Stein. Viper vermutete stark, dass sein einziges Lebenselixier der Gedanke an Rache und Macht war. Doch er hatte die Fuchsstute gut gelehrt, auch wenn es ihr damals noch schwergefallen war, ihre Gedanken und Emotionen zu verschleiern, möglichst für sich zu behalten, so hatte sie über die Jahre ein beachtliches Repertoire an Masken gesammelt. Würde diese steinerne Fassade auch den harten Worten Mercys standhalten, die noch folgen sollten? Wie gut er sie damals wirklich gelehrt hatte, würde sich wohl noch zeigen…
Die Worte des Hengstes durchschnitten den pfeifenden Wind. Das Fell der Stute kribbelte schon unangenehm, als er ihre damalige Beziehung aus den Kammern der Erinnerungen holte und Ärger stieg in ihr auf. Den belehrenden Ton ignorierte sie geflissentlich und ließ ihn reden, behielt ihre Fassung und schloss die Wut fest in sich ein. Es klang, als hätte sie ihn angefleht, wäre ohne ihn ein Nichts gewesen. Ja, sie war damals anders gewesen, das gab sie zu, doch ihre Zuneigung zu dem Hengst war nie aus Hilflosigkeit entstanden. Sie hatte ihn nie gesucht. Was wohl stimmte war, dass ihre grenzenlose Naivität sie zu dem Dunklen gezogen hatte. Viper war seine Marionette geworden und er hatte die Stricke gezogen und das war der einzige Fehler, den sie je begangen hatte. Sie würde sich nie freisprechen von dieser Schuld, oh nein, aber er hatte ihr gar nichts mehr zu sagen. Sollte sie darauf überhaupt etwas erwidern? Sie war kurz davor, ihm doch einfach den Rücken zu kehren, denn innerlich wusste sie, dass jede Diskussion vergebens wäre. Und doch blieb sie stehen. „Ein Mädchen, das erwachsen geworden ist. Auf meinen Schultern lastet nur die Verantwortung, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu begehen.“ Und schon als sie die Worte gesprochen hatte wusste Viper, dass Mercy sie nur als Schwäche auslegen würde. Doch das war der Stute egal. Die Zeit seiner bestialischen Pläne und dunklen Manipulationen waren vorbei. Reue, Selbsthass und Schuld hatten sie die letzten Jahre schon so zerfressen, dass auch die nächsten Äußerungen sie kaum noch beeindrucken konnten. Fast schon musste die Füchsin auflachen, Mercys Skrupellosigkeit war fast schon zu vorhersehbar gewesen. Auch wenn die Erinnerung an ihr ungewolltes Opfer nach wie vor in ihr Herz bohrte, so schien an diesem Platz schon ein so großes Loch zu sein, dass Viper es kaum noch spürte. Wenn er sie damit kriegen würde, wäre Ivy vergeblich gestorben. Sie wusste, dass der Hengst jegliches Zeichen von Schwäche schamlos ausnutzen würden, um sich daran zu laben. „Oh Mercy, selbst du solltest wissen, dass ich nie Freunde hatte. Ihr Tod war tragisch, aber nicht wegen ihrem persönlichen Wert. Ich kannte sie kaum.“ Es klang so grausam aus ihrem Mund, als hätte das Leben der Verstorbenen ihr nichts bedeutet. Sie war fast erschrocken von ihrer eigenen Formulierung, doch nahm sie keines der Worte zurück. Sie wusste, was sie damit meinte und das reichte ihr vollkommen. Sie starrte ihrem Gegenüber unbarmherzig ins Gesicht, blickte ihm direkt in die Augen. Das hatte er immer vermieden, hatte es gehasst. Nun nutzte sie diese Tatsache für sich. Er wollte sie foltern mit alten Erinnerungen, doch der einzige Folterknecht in ihrem Leben, der sie mit ihrer Schuld würde strafen dürfen, war sie selbst.
Noch einige Schritte ging Viper ungestört und verfiel der Illusion, dass dieser Tag sich als Grund zur Freude entpuppte. Es war manchmal grausam, welche Spiele das Leben spielte. Mit jedem weiteren Tritt wollte sich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Züge stehlen, als eine dunkle Stimme sie völlig aus den Gedanken riss. Viper erstarrte, Schweif und Kopf angespannt erhoben, die Ohren tänzelten in die Richtung der Stimme. Wer war so wahnsinnig, sich in diese Höhen zu begeben? Normalerweise traute sich keine normale Seele in Gefilde wie diese. Versagerin., hallte es in ihrem Kopf wider. Die Stimme die diese Worte belebt hatte ließ ihr Herz kurz stolpern und Viper zögerte, den Blick in der Richtung des Lautes zu lenken. Es konnte nicht er sein. Es durfte nicht er sein. Doch mit einer Mischung aus Neugier und Fassungslosigkeit wandte sie sich dem Ungeheuer zu, welches ihr Leben zerstört hatte. Und dort stand er, der Beweis, dass sie richtig gehört hatte. Stolz und angsteinflößend aufgebaut, doch er konnte über seinen jämmerlichen Zustand nicht hinwegspielen. Das Leben hatte Cruor’s Last Mercy schwer zugesetzt und er sah erbärmlicher aus denn je. Die Narben, die den Hengst schon immer hatten schaurig wirken lassen, schienen sich vermehrt zu haben, der ohnehin schon schlanke Rappe war abgemagert und seine Stimme wirkte, als hätte die Witterung ihr noch schlimmer zugesetzt, als seinem stumpfen Fell. Ja, es war wahrlich erschreckend ihn anzuschauen und jede normale Seele wäre in Ehrfurcht oder Angst davongewichen. Doch nicht Viper. Er nannte sie eine Versagerin, doch weder diese Bezeichnung, noch der wahnsinnige Blick in seinen glasigen Augen konnten sie noch beeindrucken. Was sie früher nicht gesehen hatte, sah sie nun. Er war ein Monster. Und zugleich war er doch bedauernswert. Wie er da stand, die Nüstern rissig und triefend, sie roch seine Schwäche förmlich. Wo hatte ihn sein ganzer Hass hingebracht? An den gleichen Ort wie dich. Diesen Fakt ignorierte Viper geflissentlich, dies war nicht der Zeitpunkt für Selbstverurteilung. Nicht vor ihm. Ihre Miene war steinern, undurchsichtig, nur eine leichte Überraschung, ihn so unvorbereitet am Ende der Welt zu treffen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. „Dieser Titel gebührt dir, nicht mir.“, erwiderte sie kühl. Denn es stimmte. Mercy hatte versagt. Er hatte darin versagt der Welt zu vergeben. Und selbst auf seinem irrationalen Rachezug hatte er versagt und daran trug nicht einmal Viper Schuld. Schließlich hatte er selbst es versäumt den damaligen Herrscher ihrer Heimat zu stürzen. Genugtuung stieg in der jungen Stute auf. Darüber, dass die Grausamkeit dieses Wesens ihn in die Einsamkeit und Isolation getrieben hatte. Übermächtige Ziele hatte ihr Gegenüber gehabt und keines davon erreicht. „Wie es scheint hast du dich damit abgefunden, dass du niemals über irgendetwas herrschen wirst.“, fügte sie mit Hohn in der Stimme hinzu. Oh, niemals hätte sie sich diese Worte zu sagen gewagt. Nicht damals, als sie seine Schülerin war, eine Schülerin die dabei war, sich selbst zu verlieren. Doch heute war es anders. Viper war erwachsen, war herangereift zu einer Stute, die sich nichts würde bieten lassen. Nie mehr. Wenigstens das hatte er sie gelehrt. Wenn auch unbewusst. Und was hatte er ihr noch entgegenzusetzen? Viper bezweifelte, dass Mercy so wahnsinnig war, sie körperlich anzugreifen. Er selbst wusste, dass das der reine Selbstmord wäre. Nicht nur hatte er die Fuchsstute damals selbst im Kampfe ausgebildet, weswegen sie sich annähernd ebenbürtig wären, auch das Terrain war zu risikoreich. Ein falscher Schritt könnte einen fatalen Sturz bedeuten – auch für ihn. Wobei der Rappe seinem Anblick nach zu urteilen ohnehin nicht weit vom Tode entfernt war. Ein weiterer Vorteil für Viper, die jung war und körperlich ihre volle Kraft zur Verfügung hatte. Durch die lange Wanderschaft waren ihre Muskeln ausdauernd und stark, ihr Körper kam mit der stetig leichten Unterernährung gut zurecht. Trotzdem würde sie nicht den Fehler machen, ihr Gegenüber zu unterschätzen und so hielt sie sich mit weiteren Sticheleien vorerst zurück und behielt den Rappen wachsam im Auge. Eigentlich würde ihr diese Begegnung schnell überdrüssig werden, schon jetzt wünschte sie sich von diesem Ort, diesem Monstrum fort, doch sie wäre töricht, ihm einfach den Rücken zu kehren. Und so blieb sie fest an ihrem Platze stehen, den Blick unbeugsam auf das Trauerbild vor ihr gerichtet. Irgendwie war sein Anblick so ergreifend niederschmetternd, dass sie kurz sogar die schiere Absurdität dieser Begegnung vergaß.
Kühler Wind. Er war so präsent, dass er Vipers ohnehin wilde Mähne noch mehr zerzauste. Es gab ihrem verwitterten Aussehen eine spielerische Note, die vor einigen Jahren sicher noch gut zu der Stute gepasst hätte. Doch sah man sie nun, rastlos, heimatlos, so war von Fröhlichkeit keine Spur mehr geblieben. Die Augen stumpf, den Kopf dennoch in stolzer Manier erhoben blickte sie Füchsin hinab in ein Tal, welches unwillkommene Erinnerungen aufsteigen ließ. Entschlossen kniff sie die Augen zusammen, als würde sie dadurch die Bilder der Vergangenheit ausblenden können, doch zu spät. Zu ihren Hufen lag eine Landschaft, die nur allzu sehr dem Ort glich, welchen sie damals ihr zu Hause genannt hatte. Ein Ort, der von Anfang an viele Herausforderungen mitgebracht hatte, die Viper als junge Stute mit ihrer leidenschaftlichen Lebensfreude erstaunlich gut gemeistert hatte. Fünf Jahre war es her, dass sie damals in einem Gebirge gelebt hatte, welches diesem hier erstaunlich glich. Fünf lange Jahre, in denen sich so unglaublich viel geändert hatte, dass niemand, der sie damals gekannt hatte sie nun noch wiedererkennen würde. Äußerlich mit Sicherheit, denn bis auf einige Narben, die ihren Körper ohne größeren Grund zierten und das etwas stumpf gewordene Fell hatte sich an ihrem edlen Erscheinungsbild nicht viel geändert. Doch innerlich war sie nicht mehr ansatzweise die Stute von früher. Auch jetzt, da sie sich wieder langsam in Bewegung gesetzt hatte, fehlte es ihrem Gangbild an Schwung, der Kopf war in endloser Resignation leicht gesenkt, die Augen ziellos auf einen weit entfernte Klippe gerichtet. Noch immer sah man ihr die Trittsicherheit in unwegsamen Gelände an, mühelos wich sie losen Steinen aus, ohne sich überhaupt auf den Untergrund unter ihr zu konzentrieren. Wenigstens das hatte ihr die jugendliche Erfahrung in den Bergen genützt. Nun konnte sie ihre Bergwanderung dafür nutzen, belanglosen Gedanken nachzuhängen. Kurz überlegte Viper mit einem Blick in das ausladende Tal, ob sie nicht einfach umkehren sollte. Von hier aus sah sie einen zentralen See, in der Ferne das dunkle Meer, dessen Wogen sich in weißem Schaum am Strand ergossen. Es war so erstaunlich ähnlich. Der Gedanke zog die Stute ebenso an, wie er sie abstieß. Wäre es nicht besser, diesen Ort zu meiden, Vergangenes einfach auszublenden und nicht Gefahr zu laufen, durch die ähnlich wirkende Örtlichkeit alles noch einmal zu durchleben? Viper blieb stehen. Seit Jahren war sie nun schon auf Wanderschaft, hatte so vieles versucht. Hatte versucht zu verdrängen, zu vergessen, zu flüchten. Wie lange war es her, dass sie ihre Heimat verlassen hatte? Zwei Jahre, drei Jahre? Und doch hatte alles nichts gebracht. Noch immer hatte sie sich von jeglichem Leben abgenabelt, noch immer suchten sie die Bilder der damaligen Zerstörung heim und die Schuld ihrer Taten lastete schwer auf ihrem Herzen. Dabei hatte es keine Rolle gespielt, ob sie auf den saftigsten Wiesen, oder in den dunkelsten Wäldern gestanden hatte. Vielleicht war es eine Selbstbestrafung gewesen, in all der Zeit nicht zuzulassen, dass sie sich wieder heimisch fühlte. Hatte sie es denn besser verdient? Reuevoll schloss sie erneut die Augen. Ich habe nichts Besseres verdient. Ja, diese Überzeugung hatte sie von Ort zu Ort getrieben, hatte sie ruhelos und zermürbt werden lassen. Hatte der Glaube an ihre Schuld sie bereits gebrochen?
Doch an diesem Punkt trat auch ein anderer Gedanke in den Raum. Du hast genug gelitten. Es war eine kraftvolle Stimme die sich dort meldete. Schon lange hatte Viper sie nicht mehr gehört, doch erkannte sie sie sofort. Es war ihr Überlebensinstinkt, ihr Stolz, ihre Würde. Lange hatte sie diese Aspekte ihrer Persönlichkeit verloren geglaubt, doch sie lebten noch in ihr. Sie wusste, dass dieser Teil ihr sagen würde, dass dies der Ort für einen Neuanfang wäre. War das noch möglich? Die Fuchsstute atmete tief durch. Die kühle Bergluft durchströmte belebend ihre Lungen und erfüllte ihren gesamten Körper. Ihr Fell begann leicht zu kribbeln. Der Impuls auf der Stelle Kehrt zu machen, war einer Art Neugier gewichen, die Viper schon immer gehabt hatte. Nur hatte sie sie seit Ewigkeiten nicht gespürt. Vielleicht war es an der Zeit, die alten Lasten, die schaurigen Geschichten hinter sich zu lassen und in ein Leben zu starten, welches wieder lebenswert war. Niemand kannte sie hier. Niemand verurteilte sie hier. Niemand würde es hier je erfahren. Du hast genug bereut. Probier es aus. Der Gedanke war lauter als die altbekannten Schuldgefühle. Ihm wohnte eine Art Hoffnung inne, die Hoffnung, dass sich noch mehr in diesem Leben befand als ihre momentan triste Daseinsfrist. Mit zögerlichem Elan, der sie zaghaft ergriff, setzte sich die Stute wieder in Bewegung. Eine neue Zielstrebigkeit zeichnete sich in ihren Schritten ab. Hier im Gebirge war der Ort wo es alles beginnen sollte. So, wie auch ihr Leben damals zwischen Höhlen, Steinen und Klippen begonnen hatte.