Die Kindred warfen einen Blick um sich. Das Lamm genoss die Sonne der Lichtung, der Wolf schnupperte in der Luft nach interessanten Gerüchen und lauschte, ob sich eine verlorene Seele in der Nähe befand, die es an das andere Ufer zu geleiten galt.
Kindred ist die weiße Umarmung des Nichts und die knirschenden Zähne im Dunkeln. Hirte und Schlachter, Poet und Einfaltspinsel, sie sind eines und beides. An der Schwelle des Todes ist es der pochende Puls an der Kehle, der Kindred, lauter als jedes Horn, zur Jagd ruft. Steh aufrecht im Angesicht des Silberbogens des Lamms, dann werden dich die Pfeile schnell dahinscheiden lassen. Verweigerst du dich, wird der Wolf dich fröhlich jagen und dir gewaltsam den sicheren Tod bringen.
Das ist es, was die Legenden erzählen. Doch die Kindred sind noch viel mehr. Das Lamm, nun im Leib eines Pferdes gefangen, ist verspielt, aufrichtig, liebevoll und sanft. Der Wolf, nur ein Geist, ein Hauch im Schatten, ist ein Abenteurer. Mutig und stolz, manchmal ein wenig grimmig, doch nie unfair oder illoyal.
Und so hebt der Wolf sein Haupt ruckartig und neugierig, als er ein Geräusch hört. Und das Lamm spitzt die Ohren, sich sorgend, ob jemand in Not geraten ist. Denn dass das Wesen, was auf sie zueilt, nicht dem Tode geweiht ist, spüren sie. Dieses Wesen, was auch immer es sein mag, ist keine Beute. Weder für den Bogen des Lammes, noch die Fänge des Wolfes.
"Zieh dich zurück", bittet das Lamm den Wolf und dieser tut, was sie ihm sagt. Denn er weiß, dass das Lamm eine gute Analystin ist. Die Situationen zumeist mit absoluter Sicherheit korrekt einschätzt. "Zeige dich nicht, es wird sonst Angst haben", fügt das Lamm noch hinzu, als es ein Tier aus dem Gebüsch stolpern sieht. Ein Füllen, um genau zu sein. Und direkt vor der Schnauze des jungen Pferdes ein bunter Schmetterling. Für einen Augenblick spürt Lamm ihr Herz schlagen. Warm und sanft. Denn dieses Fohlen verkörpert das noch junge Leben. Eines Tages wird es auf Lamm und Wolf treffen und sich entscheiden müssen. Wird es Hand in Hand mit dem Lamm gehen oder vom Wolf gejagt und gerissen?
Doch jetzt. Jetzt in diesem Moment. Da ist es einfach nur ein Kind und Lamm eine gewöhnliche Stute, die sich nicht erwähren kann, das Jungtier niedlich zu finden, wie es da mit dem Schmetterling spielt. Auch Legenden, selbst die ältesten, haben schließlich ein Herz.
Hallo, keines Pferdchen, lächelt Lamm und wird sich erst kurz danach darüber bewusst, dass sie selbst ja nun ein Pferd ist. Wenn auch kein Pferdchen. Soweit würde sie nicht gehen. Doch vermutlich ist das Jungtier noch so unerfahren und vielleicht auch so überwältigt von der Situation, dass es die befremdliche Wortwahl des Lammes gar nicht bemerkt.
Es gab sie nur zu zweit. Kindred bestand aus Lamm und Wolf. Sie hatte geglaubt, dass sie auch ein Leben ohne den Wolf führen wollte. Nicht dauerhaft, jedoch ab und an ein wenig Freiraum lassend um ein eigenes Leben aufbauen zu können. Der Wolf mochte eine Art Geist sein. Das Lamm hingegen war ein körperliches Wesen, ein Pferd, ein soziales Geschöpf auf der Suche nach einem Selbst. Und dieses Selbst konnte sie nicht finden, wenn sie sich nicht auch auf Artgenossen einließ. Das Lamm musterte den Fremden und die Unruhe in ihr beruhigte sich. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Sie war eine so erprobte und widernatürliche Kämpferin, dass dieser Hengst ihr keinerlei Leid würde zufügen können. Und befand sie sich in Gefahr, war der Wolf nicht weit. Und der Geist würde dann mit fetzenden Zähnen durch den Leib des Fremden jagen, wäre es nötig. Doch nun schien es eher friedlich. Der andere verneigte sich, senkte den Kopf, bot ihr Sichreheit oder wog sie zumindest in dieser.
Sie vernahm seinen Namen und speicherte ihn ab in ihren Gehirnwindungen, kategorisiert als das erste gleichartige Wesen, welches ihr dereinst über den Weg lief. "Das freut mich, Tesseran. Wir sind Kindred. Ich meine... ich meine..." Sie schluckte schwer und wusste, dass sie sich in eine peinliche, wenn nicht gar gefährliche Situation gebracht hatte. "Mein Name ist Lamm. Ich bin Lamm." Sie lächelte und hoffte, damit den ersten schalen Beigeschmack fort wischen zu können. Doch genauso wusste sie, dass die Unsicherheit ihr ein übles Spiel spielte. "Ich bin auf der Suche nach... neuen Erfahrungen, denke ich." Sprach sie weiter und sah ihn dabei herausfordernd an, eine stumme Einladung, es ihr gleich zu tun und von seinen Beweggründen zu sprechen.
Währenddessen besah Lamm sich den Hengst, unsicher was sie tun sollte. Sie hatte das Leben so nie kennen gelernt. Sie hatte in einer Blase gelebt, allein mit dem Wolf, nur dazu bestimmt zu töten. Nicht etwa aus Wut oder Hass. Sondern weil Kindred jene waren, die das Opfer zur Schlachtbank führten: ob freiwillig und stehend, oder kniend und voller Schande. Lamm war jene, die für das Ehrenvolle zuständig war. Sie kannte das Böse in dieser Welt, doch es gelangte nicht bis zu ihr. Der Wolf schirmte es ab, tötete, noch ehe Lamm damit in Berührung kommen konnte. Und nun war der Wolf fort. Und das Lamm stand Tesseran gegenüber. Gehörte er zu jenen, die der Wolf ihr bereits fern gehalten hätte, wäre er da?
Sie wusste, ihr Wolf würde Erfolg auf der Jagd haben. Als ein Teil von ihr konnte sie sein Adrenalin spüren, welches durch seine geistliche Gestalt floss. Wann hatten sie einander eigentlich gefunden? Seit Angedenken waren sie vereint wie eine Person, zwei Seelen in einer vereint, der Wolf und das Lamm. Kindred wurden sie genannt, für sich allein hatte keiner von beiden einen Namen. Sie war sein Lamm, er ihr Wolf. Und es fühlte sich richtig an, immer schon. Das Lamm wollte es nicht anders, würde es niemals anders wollen. Denn allein Kindred konnte die Toten ihrem rechten Schicksal zuführen. Jene, die aufrecht starben, trafen auf das Lamm in seiner reinen und gutmütigen Gestalt. Der Tod war schmerzlos, angenehm und schnell. Ehrlich, aufrecht stehend. Floh man vor seinem Schicksal jedoch, war es der Wolf, der auf Jagd ging. Jene durften auf kein gutes Ende hoffen. Sie waren nicht der Tod selbst, keinesfalls. Sie waren lediglich der Richter, der die Angeklagten mit ihrem Schicksal konfrontierte.
Das Lamm sah auf, als es eine Stimme vernahm, Schritte. Kampferprobt wie sie war, spannte sie ihre Muskeln an. Bereit, los zu schlagen. Es war ihr unangenehm, ohne den Wolf hier zu stehen. Zwar konnte sie sich selbst zur Genüge verteidigen, doch ohne ihn fühlte sie sich nackt. Ihr waren die Gepflogenheiten normaler Pferde nicht bekannt. Sie wusste nicht, wie sie angemessen auf den fremden Hengst reagieren sollte. Kindred hatten stets in der Schlacht gedient, nie aber ein ziviles Leben geführt. Nie Kontakt zu anderen Pferden oder Wesen gepflegt. Hier standen sie allein deshalb, weil das Lamm Erfahrungen sammeln wollte in jene Richtung. Nun aber, da ein Pferd ihr gegenüber stand und der Wolf auf Jagd, schwand ihr Optimismus. Dennoch strengte sie sich an. Vernahm seine Worte. Versuchte sie zu verarbeiten, auch wenn sie ihr nach Floskeln klangen und nicht nach mehr. "Hallo, Fremder." sagte sie und verneigte sich leicht, so wie sie es bei ihren Feinden gesehen hatte.
Keiner von uns - ist je allein.
Jedes Leben - endet mit uns.
Ihre Hufe wirbelten durch den Sand, der weiß und strahlend den Rand des Meeres säumte. Der Wolf jagte ihr nach, peitschte wie die unruhige Seele die er war entlang ihrer Flanken, stob davon, um kurze Zeit zurück zu ihr zu kehren. Kindred. Diesen Namen trug sie nicht allein. Wie Yin und Yang waren sie einander so verbunden, dass der eine nicht ohne den anderen zu denken war. "Stört es dich, Lamm?""Nein, lieber Wolf. Ich habe dich gern bei mir." lächelte sie und zog im Tempo an, um mit ihrem Gefährten mithalten zu können. Ein ein Geist umwölkte er sie. Nichts anderes war er. Doch tödlich, das war er ebenfalls. Genauso tödlich wie sie selbst, auch wenn sie als das Lamm die Sanftmütigere der beiden war. Ein jeder musste sich im Leben entscheiden: Für das Lamm oder den Wolf. Stehend sterben oder fliehend. Das allein war der Unterschied. Kindred würde über jeden richten. So wie man lebte, starb man auch.
"Wo wollen wir hin?" "Ich weiß es nicht, Wolf. Ich bin selbst noch auf der Suche nach unserem Ziel." murmelte sie in ihrer sanften Stimme und antwortete so dem harten Grollen ihres Partners. "Ich weiß allein, dass wir gebraucht werden an diesem merkwürdigen Ort. Spürst du es? So viele Tode. So viele Opfer." Das Lamm seufzte leise, während der Wolf sich die Fänge leckte. Das Lamm wusste um ihre Bestimmung und trauerte den Toten nicht nach. Doch an diesem Ort war das Leid so groß, dass selbst ihr einmal ein Kloß im Hals wuchs. "Lass uns eine Rast einlegen, lieber Wolf." Er nickte und Kindreds Schritte wurden langsamer. Beide kamen sie zum Stillstand und das Lamm blickte sich um. Das Meer rauschte, schlug an den Strand und an ihre Fesseln. Der Wolf schwebte in seiner gruseligen Gestalt neben ihr. "Ich habe Hunger." "Dann jage dir etwas, lieber Wolf. Ich werde hier auf dich warten." Der Wolf strich entlang ihrer Flanke, als er davon schnellte und wohl schon bald erste kleine Beutetiere erlegen würde. Sie selbst blieb stehen, den Blick felsenfest auf die See gebannt. Als könne dort des Rätsels Lösung liegen und warte bloß auf sie.