Die graue Stute war Alcides sympathisch. Sie wirkte recht nett, vielleicht etwas temperamentvoll und überschwänglich, aber sie war ja auch noch jung und in ihrem Alter wollte er ihr das durchaus nicht übel nehmen.
Und jetzt, da er sonst noch nichts zu tun hatte, kam ihm eine Unterhaltung recht gelegen. Allerdings stellte die Graue dann die Frage, die Alcides immer am meisten Sorgen bereitet - sie wollte wissen, woher er kam.
Alcides log nicht besonders gern - vielleicht keine gute Eigenschaft als Spion, fiel ihm nun ein -, und wenn es einmal erforderlich war, hangelte er sich an Halbwahrheiten entlang. Damit konnte er meistens gut leben.
Die Lüge - oder besser Halbwahrheit -, die er seiner Gegenüber nun erzählte, hatte er so schon ungefähr hundert Mal aufgetischt.
Es war seine "Standartgeschichte", die er immer dann auspackte, wenn ihn auf seinen Reisen jemand nach seiner Herkunft fragte, und Alcides fühlte sich mit ihr mittlerweile ganz gut. Streng genommen log er ja nicht. Er ließ nur einige Details aus. Deswegen merkte man ihm auch nichts an, als er der Stute antwortete: "Ich stamme aus einer kleinen Herde außerhalb dieses Tals. Als Junghengst bin ich abwandert und seitdem mal hier, mal da, geblieben. Mir gefällt das Reisen und nun hat mich das Schicksal, oder der Zufall, wie man's nehmen will, hier hergeführt."
Das war alles korrekt - seine Herde war klein, sie war außerhalb dieses Tals und er hatte sie als junger Hengst verlassen und war seitdem überall und nirgendwo gewesen. Das Reisen mochte er auch, das stimmte, obwohl diese Leidenschaft mit den Jahren deutlich nachgelassen hatte und er sich oft wünschte, endlich ankommen, nach Hause kommen, zu können.
Und doch hatte er die wichtigen Details ausgelassen. Warum war er von seiner Herde weggegangen? Alcides wusste, dass es nicht in allen Herden so war, wie in seiner und das viele Pferde ihr ganzes Leben lang in ihrer Herde blieben. Und warum genau war er hier? Nur weil er das Reisen mochte und zufällig von diesem Job gehört hatte?
Oder doch, weil er verzweifelt nach irgendeiner passenden Aufgabe für sich suchte?
Eher letzteres, natürlich. Alcides wusste nicht genau, wann er diese "Halbwahrheit" zum ersten Mal erzählt hatte, aber sie begleitete ihn schon ziemlich lange. Um ehrlich zu sein, war es ihm einfach unangenehm, von seiner erfolglosen Suche nach einer Lebensaufgabe zu erzählen und davon, dass es ihm vorher verboten war, nach Hause zurückzukehren.
Es mochte ja sein, dass das für die meisten Pferde, die er traf, kein Grund zum Schämen war. Oft wunderten sie sich sogar über die komische Praxis in seiner Herde. Aber für ihn war es das nun einmal doch - ein Grund, sich zu schämen.
Aber davon sollte die graue Stute nichts erfahren. Alcides fand, dass es völlig überflüssig wäre, ihr seine ganze Lebensgeschichte aufzutischen. Seichter, oberflächlicher Smalltalk, freundlich, aber im Grunde bedeutungslos. Das war es, wonach ihm der Sinn stand. Nebenbei vielleicht noch etwas über seine Partnerin, diese "Cerri", herausfinden.
Falls deren Freundin, die sich gerade mit ihrem Namen vorgestellt hatte, etwas preisgeben wollte. Cicada hieß sie. "Ein hübscher Name!", kommentierte Alcides freundlich. "Sehr passend!"
Er freute sich darüber, dass Cicada nun berichtete, auch Spionin zu sein.
So kannte er immerhin schon jemanden aus der Truppe, das gefiel ihm, und außerdem konnte er so vielleicht schon ein paar Informationen zu dieser ihm doch noch fremden Aufgabe herausbekommen. "Wie lange bist Du denn schon Spionin? Hast Du schon viele Einsätze" - nannte man das so? - "mitgemacht? Und wirst Du auch einen Partner bekommen?"
Er wünschte Cicada insgeheim ja jemanden wie ihn als Partner. Ein ruhiges, ernsthaftes Gegenstück, das ihre lebhafte Art etwas zügeln konnte. Alcides fragte sich, ob das ihr Vorgesetzter wohl bedacht hatte.
Vermutlich schon, er war ja sicher sehr erfahren.
In der Vergangenheit hatte Alcides oft als "Anker" gedient für quirlige Lehrlinge oder war dazu eingeteilt worden, auf diese aufzupassen, und das hatte die Arbeitsergebnisse der Jungspunde oft deutlich verbessert.
Deswegen war Alcides ja auch einmal zum Erzieher geworden. Aber das hatte sich dann doch nicht als seine Aufgabe herausgestellt. Er seufzte leise, spitzte dann aber wieder die Ohren, als Cicada auf die Frage nach Cerri etwas merkwürdig antwortete. "So was wie Freunde", seien sie und Cerri. Alcides war nicht klar, wie man "so etwas wie Freunde" sein konnte. Entweder, man war der Freund von jemandem, oder nicht. Wie sollte es da ein Zwischending geben? Vielleicht mochte Cicada Cerri ja nicht besonders? An ihrer zögerlichen Antwort war jedenfalls irgendetwas komisch. Er beschloss, genauer nachzufragen. "Versteht ihr euch nicht so gut, Du und Cerri?" Er machte eine kurze Pause und entschloss sich zu einem weiteren Vorstoß, um seinen Verdacht, Cerri könnte noch sehr jung sein, zu überprüfen. "Ich habe schon von ihrer jungen, unvorsichtigen Art gehört." Strenggenommen nur in seinem Kopf, sonst hatte er ja noch mit niemandem über seine künftige Partnerin geredet. "Sie ist vielleicht etwas anstrengend, oder?"
Cerri. Alcides war verwirrt. Das klang wie der Name eines Kindes. Ein alberner Spitzname. Diese Ceridwen würde doch hoffentlich kein Jungpferd mehr sein, oder? Er hatte auf jemand erfahreneren gehofft. Wenn seine Partnerin genau so unerfahren war, wie er, konnte das ja eine heikle Mission werden.
Hauptsache, man würde nicht von ihm erwarten, Babysitter zu spielen. Er hatte keine Ahnung, wie er es hinbekommen sollte, seine Aufgaben als Spion zu erledigen, wenn er gleichzeitig auch noch auf ein Kind achten musste. Er schnaubte leicht genervt, bemühte sich aber, trotzdem höflich zu klingen, als er sich wieder an die graue Stute wandte. Diese konnte ja schließlich nichts für diese ganze Sache und war sehr freundlich zu ihm - auch, wenn auch sie noch reichlich jung wirkte. "Ich danke Dir.", erwiderte Alcides. "Dann werde ich am besten hier auf sie warten. Mein Name ist Alcides, und ja, ich bin neu hier. Ich soll die Herde als Spion unterstützen. Deswegen bin ich auch auf der Suche nach Ceridwen. Wir sollen Partner werden."
Er hielt inne, während seine Gedanken abschweifen. Partner. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. In der Vergangenheit hatte er stets allein gearbeitet. Ein Partner war nie notwendig gewesen und um ehrlich zu sein, hätte Alcides gewusst, dass er hier einen Partner brauchte, er war sich nicht sicher, ob er die Aufgabe überhaupt angenommen hätte. In seiner Vorstellung hatte die Arbeit mit einem Partner vor allem Nachteile. Entweder, diese Ceridwen war eine junge, unerfahrene Stute, die er ständig vor Unheil bewahren und vor sich selbst schützen musste. Sie würde ihm nur zusätzliche Arbeit machen und womöglich die Erfüllung seiner Aufgaben gefährden. Oder sie war zwar älter und bereits erfahren, nahm ihn als "Neuen" aber nicht ernst und behandelte ihn von oben herab, als wäre er nur ein lästiges Anhängsel. Ließ ihn die Drecksarbeit machen und heimste selbst alle Lorbeeren ein. Beides erschien ihm wirklich nicht sehr erstrebenswert. Er verstand überhaupt nicht, was das mit einem Partner sollte. Genauso gut könnte er allein unterwegs sein. Das wäre sicher viel einfacher. Gott bewahre, dass sie sich auch noch als Pärchen ausgeben sollten oder derlei Dinge. Zur besseren Tarnung. Bei seinem Glück konnte Alcides sich das durchaus vorstellen.
Nein, diese ganze Partner-Sache gefiel ihm nicht. Es war nicht so, dass er andere Pferde nicht mochte. Er lebte gerne in Gesellschaft und hatte viele lockere Freundschaften und liebe Bekannte. Es war nur so, dass man, naja, in seiner Vorstellung seinen Partner ja ziemlich nah an sich heranlassen, ihm absolut vertrauen musste. Und um ehrlich zu sein, machte er sich Sorgen darüber, ob er dazu überhaupt in der Lage war. Ob ihm dieses Partnerzeug seine Arbeit versauen würde.
Er seufzte tief und schüttelte bei sich den Kopf. Dann wandte er sich wieder an die graue Stute vor ihm und blickte sie freundlich an. Es half ja nichts, nun war er hier und wollte es wenigstens einmal ausprobieren mit dem "Spion sein", bevor er schon vorzeitig die Flinte ins Korn warf. Also konnte er sich mit der Fremden unterhalten, etwas Besseres hatte er gerade ohnehin nicht zu tun. Sie schien ja sehr nett zu sein und vielleicht konnte er so schon etwas über Ceridwen in Erfahrung bringen. Vielleicht waren sie ja befreundet? "Entschuldige, ich hoffe, ich halte Dich nicht von wichtigen Arbeiten ab.", sagte er höflich. "Ich glaube, Du hast mir Deinen Namen noch gar nicht gesagt. Was ist Deine Aufgabe hier, bist Du auch eine Spionin?" Ohja, das wäre gut, dann hatte sie vielleicht schon einmal mit dieser Ceridwen zusammengearbeitet und konnte ihm etwas über sie erzählen. "Ist Ceridwen Deine Freundin?"
Nun also Spion. Alcides seufzte tief. Spion in einer fremden Herde, um eine andere fremde Herde auszuspionieren.
Er war sich wirklich noch nicht sicher, was er von dieser neuen Aufgabe halten sollte. Nach seinem Geschmack mischte er sich damit allzusehr in den Krieg ein - und dieser war ihm wirklich zuwider.
Andererseits konnte er mit seiner Arbeit ja vielleicht dazu beitragen, dass der Krieg endlich endete. Nützliche Informationen herausfinden, die seiner neuen Herde halfen, alle Kämpfe für sich zu entscheiden und die Macht über dieses Tal zu übernehmen. Seiner neuen Herde. Er schüttelte leicht den Kopf. Nein, das klang merkwürdig. Seine Herde, die war weit weg und unerreichbar für ihn. Seine Familie. Das hier, das war nur ein weiterer Job, den er zufällig gefunden hatte, als er hier entlang kam und aufschnappte, dass Aufgaben zu vergeben waren. Es war keine schlechte Herde, sicherlich nicht, aber eben nicht seine. Doch eines wusste Alcides bereits jetzt: Dass es das beste für alle war, wenn diese den Krieg gewann. Immerhin gab es hier Engel. Und Engel waren doch bekanntlich gutartige, friedliche Wesen? Bestimmt würden sie dafür sorgen, dass endlich wieder Ruhe ins Tal einkehrte. Und was hätte es auch für Alternativen gegeben? Etwa der fahle Hengst mit seiner Horde voll Wahnsinnigen? Alcides schnaubte verächtlich. Nein, wenn dieser den Krieg gewinnen sollte, würde Alcides sehen, dass er so schnell wie möglich das Tal verließ. Bei all den Geschichten, die er bislang über diese Truppe gehört hatte, wollte er wirklich nicht mehr hier sein, wenn sie an die Herrschaft gelangen sollten.
Ehrlich gesagt war der Hengst froh, dass die Wahl nicht auf ihn gefallen war, als es darum ging, wer die Verrückten ausspionieren durfte. Ihm tat derjenige, der ihnen zugeteilt war, jetzt schon leid.
Alcides Spionageziel kam ihm dagegen schon sehr viel angenehmer und harmloser vor. Zwar erzählte man sich auch hier wilde Geschichten, über Magie und Pferde, die sich in Raben verwandelten, aber vermutlich waren das eben auch nichts weiter als das: Geschichten. Alcides machte sich jedenfalls keine großen Sorgen. Man würde ihn ja schließlich auch noch ein bisschen ins "Spion sein" einarbeiten, oder? Zumindest hoffte er das. Er hatte nämlich keine Ahnung davon, was es bedeutete, ein guter Spion zu sein. Also, natürlich kannte er die Aufgaben: Finde interessante, strategisch wichtige Dinge heraus, ohne aufzufallen oder gar aufzufliegen. Aber wie genau man das am besten anging, war ihm noch nicht klar. Er konnte ja schlecht einfach in die Herde marschieren und dem nächstbesten Pferd seine Fragen stellen.
Dann würde man ihn sicher enttarnen - und das würde er tunlichst zu vermeiden versuchen. Das würde sicher zu einem Kampf führen und im Kämpfen war Alcides nicht besonders gut.
Immerhin hatte man ihm schon mitgeteilt, dass er eine Partnerin bekommen würde. Ceridwen hieß sie, aber das war auch schon alles, was er bislang von ihr wusste. Ja, das, und das Ziel ihres Auftrags war alles, was man ihm bislang gesagt hatte. Alcides hoffte, dass diese Ceridwen erfahrener war, als er, was das Spionieren anging. Damit könnte sie seine Chancen, das Ganze zu überleben, vermutlich um Einiges verbessern.
Der Hengst seufzte tief. Er hoffte bloß, dass diese neue Aufgabe nun endlich seine Herzensaufgabe war. Die Aufgabe, die das Feuer in ihm entfachen würde. Seine Leidenschaft. Sein Lebenssinn.
Und vor allem: Das Ticket zurück zu seiner eigentlichen Herde, seiner Familie. Denn dorthin durfte er erst zurückkehren, wenn er seine Lebensaufgabe gefunden hatte, so stand es geschrieben, so war es Brauch, alle mussten sich daran halten.
Und Alcides suchte nun wirklich schon lange genug. Er hatte die Nase voll davon, sich an verschiedenen Aufgaben zu probieren.
So vieles hatte er schon probiert - Kräutersammler, Wächter, Kindererzieher, was war er nicht alles schon gewesen in den langen Jahren seiner Suche. Er wollte endlich mal ankommen! Vielleicht war diese Aufgabe hier ja sein Ticket nach Hause. Er wünschte es sich so sehr.
Entschlossen stapfte Alcides mit dem Vorderhuf auf. Ja, er würde sogleich mit der Arbeit anfangen! Je früher er anfing, desto schneller konnte er auch herausfinden, ob das hier wirklich das war, was ihn erfüllte.
Und während sich noch kein Ausbilder blicken ließ, könnte er wenigstens schon einmal die Stute ausfindig machen, die seine Partnerin werden sollte. Ceridwen. Seinen Partner sollte man schließlich gut kennen und jemanden kennenzulernen, das dauerte sicher seine Zeit.
Alcides sah sich um und entdeckte eine grauweiße Stute, die ganz in seiner Nähe ihres Weges ging. Sie sah aus, als würde sie sich hier bereits gut auskennen und ihm vielleicht weiterhelfen können.
Kurz entschlossen setzte sich Alcides in einen schwingenden Trab und hielt auf sie zu. "Hey!", rief er der Fremden zu. "Bitte entschuldige, dass ich Dich störe. Ich suche jemanden, eine Stute namens Ceridwen. Kannst Du mir vielleicht sagen, wo ich sie finden kann?"