Stillreich » Das Tal » Sonnenzeit
Ort: Höhlen - Teilnehmer: Lassiter
» Mathilda


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» Katarzyna Okrzesik



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Morgendämmerung. Mathilda wusste nicht mehr, wie lange sie jetzt schon unterwegs war. Tage, Wochen, Monate? Die Zeit schien zu einer einzigen undurchsichtigen Masse zusammengewachsen zu sein, es gab für die junge Stute nur noch Tag und Nacht, Sonne und Mond. Wobei selbst das kaum einen Unterschied zu machen schien, denn sie wanderte unentwegt, selbst wenn es mittlerweile nur in langsamen, zehrenden Schritten vorwärts ging. Einzig am Tag gönnte sie sich einige Pausen an erhöhten Orten, um ihre Umgebung gut im Blick zu haben, doch solche Momente waren weit davon entfernt, sich als erholend schimpfen zu können. Die junge Stute war das erste Mal in ihrem Leben auf sich allein gestellt und das in einem so zarten, schutzbedürftigen Alter. Ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass sie nicht dafür gemacht war, diese Welt allein zu bewandern, doch welche Wahl hatte sie? Es gab nur den Weg nach vorne und die Braune konnte nur hoffen, irgendwann auf eine Seele zu treffen. Bisher war ihr Pfad nur von der Natur und deren Artenvielfalt gesäumt worden und gefährliche Begegnungen mit Räubern waren ihr Dank der unablässigen Wachsamkeit erspart geblieben. Ihre Schulter schmerzte mittlerweile durch die Strapazen der Reise unentwegt und eine halsbrecherische Flucht würde Mathilda sich nicht erlauben können. Wenn sie überhaupt noch dazu imstande wäre…

So war es für die zierliche Stute auch ein Rätsel, wie sie es über diese Gebirgskette geschafft hatte. Nun, da die Sonne zögerlich aufging und die Landschaft um sie herum erhellte, sah Mathilda erst, was sie über die Nacht vollbracht hatte. Sie war auf dem Abstieg in ein weit ausladendes Tal, von hier oben sah sie einen strahlend blauen See, in der weiten Ferne sogar einen Strand, dessen Getöse sie nicht hören, sich aber lebhaft vorstellen konnte. Kurz blieb sie stehen, entlastete ihr verletztes Bein. Die Ohren spielten unentwegt, bereit, jedes Geräusch ihrer Umgebung zu analysieren, aber die Kleine stand auf einem solch kahlen Gebirgsfleck, dass keine Gesellschaft zu erwarten war. Zum ersten Mal seit Tagen spürte sie so etwas wie Hoffnung in sich aufkeimen. Wochenlang war sie durch Moore und weite Steppen gewandert, durch Waldstücke, doch keiner dieser Orte war sonderlich lebensfreundlich gewesen. Das Tal zu ihren Hufen schien deutlich verheißungsvoller zu sein und die leere Resignation in ihr wich wenigstens teilweise einer winzigen Hoffnungsflamme. Sie erwärmte Mathilda zart von innen, während die Sonne auch von außen Mut zu neuem Optimismus versprach. Mit dem gerade geschöpften Elan schritt die junge Stute also erneut los, zum ersten Mal mit einem Ziel vor Augen. Obwohl die Reise nach unten sehr beschwerlich war und ihrer Schulter enorm zusetzte, gab sie nicht auf. Mit der Zeit wurde sie immer langsamer, vorsichtiger in diesem unwegsamen Gelände und kleine Zweifel schlichen sich sein. Was, wenn dort auch niemand ist? Nein, diesen Gedanken durfte sie nicht zulassen. Bei so viel grün, einem solchen See, dort musste es Pferde geben. Es musste einfach. Es war ihre einzige Chance. Doch was würde sie eigentlich tun, wenn sie erstmals nach so langer Zeit der Einsamkeit auf Artgenossen traf? Noch immer hatte sie die schrecklichen Bilder ihrer alten Heimat im Kopf und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was, wenn hier alle so sind wie damals? Damals. Es schien schon wie eine Ewigkeit, seit sie ihre Herde verlassen hatte. Natürlich hatte Mathilda von ihren Erfahrungen eine gehörige Portion Misstrauen mit auf den Weg genommen, doch würde sie sich das leisten können? Es waren nicht alle schlecht. Nur ein paar Wenige. Sie redete es sich ein, doch wusste sie, dass in diesen Worten auch Wahrheit steckte. Sie durfte nicht die ganze Welt verurteilen, nur weil ihr Vater ein Tyrann gewesen war. Sonst würde sie daran zerbrechen. Außerdem brauchte sie so dringend Schutz und Ruhe…

Und schließlich hatte sie es ja auch bis hierher geschafft. Hunger, Durst, Verletzung und Einsamkeit hatten sie noch nicht niedergerafft. Obwohl Mathilda manchmal keinen Sinn darin sah, so klammerte sie sich doch an diesem Leben fest. Sie hatte schon lange nicht mehr geweint, wie an den ersten Tagen, denn irgendwie gab es keine Tränen mehr, die übrig waren. Vielleicht wusste die Stute auch einfach, dass sie sich diese Schwäche momentan nicht erlauben durfte. Mit immer müder werdenden Gliedern kraxelte die Braune voran und endlich schien ihr Marsch ein vorläufiges Ende zu finden. Das Stechen in ihrer Schulter wurde mit jedem Tritt unerträglicher, doch die kleinen Höhlen, die sich vor ihr auftaten, schienen Abhilfe zu versprechen. Kurz hielt sie an, prüfte argwöhnisch die Luft, doch nur eine kalte Brise wehte ihr in die Nüstern, vermischt mit der Note von Geröll und feuchtem Stein. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein offenes Steinplateau, welches sie hervorragend überblicken konnte, direkt zu ihrer Linken war eine geräumige Höhle, die von der mittlerweile hochstehenden Sonne ausreichend beleuchtet wurde. Wieder nahm sie sich Zeit diesen Ort eine Weile lang zu betrachten und beschnuppern, doch kam sie endlich zu dem Schluss, dass es sicher schien, hier zu rasten. Die Euphorie über diesen Glücksfund ließ sie auch die letzten Schritte in die Ecke dieses schützenden Platzes überstehend und ohne weitere Vorsicht ließ sich Mathilda auf den staubigen Boden sacken. Ihr kompletter Rücken drückte sich gegen die leicht erwärmte Steinwand, gab ihr die Illusion von Schutz und Sicherheit. Von hinten würde sich niemand anpirschen können. Jetzt, wo keine Bewegung mehr als Störfaktor fungierte, spürte sie erst, wie sehr die beanspruchte Schulter pochte, ihr Magen rebellierte und jeder Muskel in dem zarten Körper nach Erholung schrie. Sie war so müde, so am Ende und obwohl die Resignation sie übermannen wollte, so kämpfte doch eine Welle von Stolz gegen die trübende Hoffnungslosigkeit in ihr. Aber schon nach wenigen Sekunden – oder waren es Minuten? – war Mathilda zu müde, um dem Kampf ihrer gegensätzlichen Gedanken beizuwohnen, den Worten in ihrem Kopf zu lauschen. Sie schloss die Augen, die zuvor noch schwach gegen die Sonne geblinzelt hatten und dämmerte das erste Mal seit Tagen ein. Und wenn man sie so sah, dann wohnte dieser Szene etwas ungewohnt Friedliches bei, als die Strahlen der Sonne den Staub auf dem Fell des zarten Wesens zum Tanzen brachte.



Wörter: 1155

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10.11.2021, 14:12
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