Kapitel 8
Sie hasste es, den ganzen Tag zuhause herum zu sitzen und nichts zu tun. In ihrem Magen herrschte ein eigenartiges Gefühl, das sie beinahe als Sehnsucht bezeichnet hätte. Nathan hatte sich, wenn auch nur für Augenblicke, geöffnet und ihr eine Seite von sich gezeigt, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Der Mann, der ihr so viel Leid zugefügt hatte, trug in sich auch eine warme Zuneigung für Silver. Wie konnte das sein?
Mit den Fingern trommelte sie unruhig auf dem kleinen Beistelltisch, der Kaffee darauf war längst kalt geworden weil sie ihn vergessen hatte. Nun, da ihr Blick darauf fiel, nippte sie kurz daran, nur um die Tasse mit vor Ekel verzerrtem Gesicht wieder weg zu stellen. Damayanti hatte es wohl mitbekommen. „Ich hole Euch eine neue Tasse.“ Die Stimme der Alten war sanft und liebevoll. Die Furcht, die sie vor Silver empfunden hatte, war längst wieder erloschen. Silver hütete sich, sie nicht anzufassen. Ein stilles Abkommen, das beiden gut gefiel.
Doch sie musste auch daran denken, dass sie nicht nur die negativen Gefühle empfand, sah und verstärken konnte. Bei Nathan war es seine Liebe und Zuneigung gewesen, die sie hatte spüren können. Silver hatte ihre „Gabe“ als Bürde akzeptiert. Niemals würde sie mit den Emotionen anderer spielen, um sie zu manipulieren. Das schmerzverzerrte Gesicht Damayantis hatte ihr das Herz gebrochen. Und auch sie selbst war nicht erpischt darauf, noch einmal das Leid eines anderen auf die eigenen Schultern zu bürden. Denn nicht nur der Betroffene empfand, auch sie selbst spürte jene Verzweiflung, Trauer, Hass oder eben die Liebe, die Nathan niemals würde zugeben können.
Damayanti stand plötzlich neben ihr, ein Kännchen und eine Tasse abstellend. Silver, in ihren Gedanken versunken, schreckte auf. „Entschuldigt Herrin.“
„Schon gut, ich war einfach nicht bei der Sache. Damayanti, nenn mich doch einfach Silver. Bitte.“
„Herrin, das steht mir nicht zu.“ Silvers Blicke glühten auf der Dienerin, die sie als solche nicht mehr länger wahrnehmen wollte.
„Ich bin ein Mädchen aus einfachem Haus. Ich möchte keinen Diener, Damayanti. Eine Freundin schon eher.“
„Aber Herrin...“
Ein vernichtender Blick gebot ihr Einhalt. „In Ordnung,... Silver.“ Ein zaghaftes Lächeln trat auf die runzligen Lippen der Inderin, die in ihrem heutigen orangen Sari so fröhlich aussah, wie die Sonne selbst. Hätte Damayanti nicht mit eigenen Augen das Leid gesehen, sie hätte es nicht geglaubt.
„Erzähl mir von Nathan.“ Murmelte Silver, als sie an ihrem Kaffee nippte. Das Porzellan klirrte leise, als sie die Tasse wieder abstellte. Damayanti setzte sich auf einen der freien Sessel und strich den Sari glatt. In ihrem Gesicht konnte Silver Unsicherheit lesen. Mit ihren blassgrünen Augen musterte sie die alte Frau, wartete. Glaubte schon nicht mehr, dass sie reden würde.
„Ich kenne den Herren schon seit er geboren wurde, da war ich vielleicht dreißig. Etwas älter womöglich. Ich hatte seine Mutter versorgt in ihrer Schwangerschaft und half, das Kind zu entbinden. Das war die Zeit, nach...“
Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. „Schon gut, ich verstehe.“ Murmelte Silver und wieder war der Drang in ihr immens, tröstend eine Hand auf die ihre zu legen. Doch sie widerstand dem Wunsch.
„Ich habe mich um den Kleinen gekümmert, auch als seine Mutter nicht mehr da war. Als er klein war, war er so ein Sonnenschein. Doch seine Verbitterung wurde von Tag zu Tag schlimmer und je mehr er die Welt begriff, umso mehr hasste er sie. Und der Zorn seines Vaters... Aber ich darf Euch... dir all das gar nicht erzählen, verzeih.“
„Was ist mit seiner Mutter geschehen?“
„Silver, das wird er dir selbst sagen müssen. Es steht mir nicht zu, seine Geschichte zu erzählen. Ich darf nur für mich selbst sprechen, nicht für ihn. Aber eines musst du wissen, er ist nicht durch und durch böse.“
„Ich weiß.“
„Du weißt?“ Auf ihr Gesicht trat ein fragender Ausdruck. Wahrscheinlich wusste sie, wie grausam Nathan sein konnte und hätte nicht gedacht, dass Silver auch seine andere Seite hatte sehen können.
„Du hast ihn berührt.“ Murmelte sie dann, ohne den Blick von ihr zu wenden.
„Ja.“ Silver senkte den Blick, um ihren stechenden Augen auszuweichen. Plötzlich fühlte sie, die eigentlich all die Fragen hatte, wie im Kreuzverhör.
„Was hast du gesehen? Seine Mutter?“
„Nein, ähm.. mich. Ich habe mich gesehen.“
Nun wurden ihre Augen groß, riesig beinahe. Damayanti schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich hatte die Hoffnung aufgegeben.“ Murmelte sie leise und Tränen kullerten ihre Wangen herab.
„Damayanti, was..?“ Silver rückte näher an die Alte heran, unfähig zu begreifen, wovon sie sprach.
„Ich dachte, sein Herz sei zu Stein geworden. Ganz offensichtlich ist dem nicht so.“ Sie zwinkerte die Tränen fort und lächelte. Ein so warmes, liebevolles Lächeln. Nun erst wurde mir klar, dass sie Nathan groß gezogen hatte wie das eigene Kind, dass ihr verwehrt geblieben war. Sie liebte ihn auf diese mütterliche Art, die Silver so sehr von ihrer eigenen Mutter vermisste. Die Bande zwischen Nathan und Damayanti mussten stärker sein, als Silver es für möglich gehalten hätte.
Damayanti hatte sich in die Küche verzogen, um das Abendessen zu zaubern. Sie war ihrer Kochkünste wegen bescheiden, doch Silver kannte keine bessere Köchin als die Inderin. Sowohl exotische, als auch heimische Speisen bereitete sie vortrefflich zu. Die große Holztür des Wohnzimmers knarrte, als sie geöffnet wurde.
„Soll ich dir jetzt doch beim Kochen helfen?“ kicherte Silver, doch ihr blick das Lachen im Halse stecken, als sie Nathan sah. Schwere Schatten lagen auf seinem Gesicht, die schwarzen Haare ragten ihm unordentlich ins Gesicht und – sie zwinkerte kurz, doch es war wirklich so – er zitterte.
„Hey.“ Seine Stimme war so sanft, so brüchig, als stünde er kurz davor zu weinen. Silver stand auf und trat auf ihn zu. Ihre Hände fanden sein Gesicht und er schmiegte es Schutz suchend in ihre warmen Handflächen.
„Was ist los?“ fragte sie heiser und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Doch er schloss sie und schüttelte den Kopf.
„Es ist schon wieder ein Mädchen verschwunden.“ Brach er nach einer Weile das Schweigen. Ein Schauder rann ihr über den Rücken. Allmählich war die Annahme, es handle sich um einen Einzeltäter, absurd. Irgendjemand kidnappte ganz systematisch junge Vampirinnen. Und Nathan nahm das sichtlich mit.
„Kann ich dir irgendwie helfen? Nate?“ Verwundert sah er auf, ihre warme Art überraschte ihn sichtlich und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Wie um alles in der Welt konnte sie noch immer so freundlich zu ihm sein? War es Mitleid?
Silver konnte es unter seiner Haut pulsieren spüren, doch sie unterdrückte, was auch immer es war. Es war schwer und erforderte Konzentration, doch sie wollte ihn nicht loslasen. Er brauchte Halt, so wie auch sie Halt brauchte. Und sie hatten nur einander, auch wenn ihre Ehe ein Konstrukt der Lügen war. Nichts Echtes. Ein Glashaus. Doch es wohnte sich erstaunlich gut darin, wenn man von den Brocken absah, die Nathan regelmäßig um sich warf.
„Nein, was willst du denn tun?“ Fragte er wütend. Doch sie wusste, seine Wut richtete sich dieses eine Mal nicht gegen sie. Zärtlich strich sie mit ihrem Daumen über sein Gesicht und lehnte sich gegen ihn. Er wich kurz zurück, legte dann jedoch unbeholfen seine Arme um sie. Er hatte wohl selbst nicht damit gerechnet, wie gut es sich anfühlen konnte, jemanden zu haben.
Lange verharrten sie in dieser Regungslosigkeit. Sie spürten einander und hielten einander fest. Doch dann kam Leben in Silver, sie trat zurück und sah ihm in die Augen. Die ihren schillerten lebhaft in grün und grau und türkis. Fasziniert sah Nathan sie an, ihre Augenfarbe veränderte sich stets. Konnte das sein? Aber was war schon unmöglich, seine Gattin konnte sich in die Köpfe anderer versetzen. Da war ein bisschen Farbenspielerei doch das geringste.
Sie redete. Er sah es, als sein Blick auf ihre Lippen wanderte.
„Hörst du mir zu?“
„Nein, ich..ähm.. Ja doch, entschuldige.“ Weiterhin fasziniert sah er sie an. Sie war schön, auch wenn er diesen Gedanken so selten zuließ. Warum eigentlich? Fürchtete er sich davor, sie schön zu finden? Sie zu einer realen Person werden zu lassen, deren Gefühle geachtet werden mussten? War es für ihn nicht einfacher, sich emotional von ihr abzuschotten.
„... ich fühlen, wo sie ist.“ Endete Silver, als Nathan soeben den Kopf schüttelte um endlich all die Gedanken aus ihm heraus zu bekommen und um ihr zuzuhören. Doch es brauchte gar nicht viel, um Eins und Eins zusammen zu zählen.
„Du willst was?“
„In ihre Wohnung. Wenn ich die Sachen berühre, kann ich mich vielleicht in sie hinein versetzen. Und dann wissen wir, wo sie ist. Ob es ihr gut geht. Sowas eben. Vielleicht finden wir sie so.“
„Nein.“
„Nein?“
„Kommt gar nicht in Frage.“ Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, um sie beiseite zu schieben.
„Warum?“ Nun wurde sie beinahe mutig. Noch vor einigen Tagen hätte sie nicht gewagt, ihm zu widersprechen. Nun aber kam der Protest laut und deutlich über ihre Lippen. Sie durfte nicht übermütig werden, das wusste sie.
„Weil du... Weil das.. gefährlich ist.“
„Aha.“ Ihr Blick strahlte nun bloßen Trotz aus, als sie ihn ansah. Dann aber wich ihr Ausdruck einer tiefen Verwunderung.
„Du machst dir Sorgen?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie das sagte. Nathan fuhr sich mit der Hand durchs dichte Haar, er kniff die Augen zusammen.
„Ich hab nachgelesen, Silver. Solche wie du, solche Seelen... Na du weißt schon. Wenns dumm läufst, fühlst du das nicht nur. Sondern erlebst es auch. Wie soll ich das sagen?“
„Wenn ich mich in jemanden versetze, könnte ich ernsthaft verletzt werden?“
Schweigen entstand und Nathan sah sie aus unergründlichen Augen an. Langsam sagte er: „Ja.“
„Und das stört dich?“
Ein heißer Schmerz überkam ihr Gesicht. Sie sah seine erhobene Hand, realisierte jedoch kaum, was soeben geschehen war. Langsam taumelte er rückwärts, sah abwechselnd auf seine Hand, dann in ihr Gesicht. Silver spürte etwas Nasses auf ihren Wangen. Weinte sie etwa?
„Es tut mir...“ Seine Stimme brach sich, als er sich abwandte und aus dem Zimmer stürmte. Silver hielt sich ihre Wange, die wie Feuer brannte. Sie hatte bereits zuviel Schmerz von ihm empfangen, um sich daran zu stören, dass er sie nun also auch noch schlug. Verwirrender war für sie, warum er sie schlug. Was hatte ihn so aufgebracht? Sie rekonstruierte das Gesagte, kam jedoch zu keinem logischen Schluss.
„Silver, das Essen ist... du meine Güte, war er das?“
Damayanti eilte ins Zimmer und legte ihre Händer auf Silvers Gesicht, strich ihr die Tränen aus den Augen und das Haar aus der Stirn. „Komm mit, wir versorgen das.“ Seufzte sie leise und führte Silver aus dem Raum ins Bad. Ihr Körper schien wie auf Wolken zu schweben, die Realität weit entrückt. Auch als Damayanti ihr etwas Kühlendes auf die Wange legte, fand sie nicht zurück in die Realität. Ihre Gedanken kreisten um das Gespräch, das sich ihr nicht erschloss. Warum hatte er sie geschlagen?
„Das dürfte helfen.“ Murmelte die Greisin, als sie fertig war. „Wollen wir etwas essen oder möchtest du gleich ins Bett?“
„Mir ist der Hunger vergangen.“ Silver spürte ihr schlechtes Gewissen, wie es sich ob der Mühe Damayantis meldete. Die Frau hatte extra gekocht und nun verschähte sie das Mahl. Doch ihr war einfach nicht mehr nach Essen zumute. Doch eigentlich wollte sie auch nicht ins Bett. Dort würde Nathan sein. Oder? Er hatte die letzten Tage nur unregelmäßig das gemeinsame Ehebett genutzt.
„Nathan ist fort. Er ist aus dem Haus gestürmt. Ich dachte, ein Einsatz... Aber...“
„Schon gut.“ Silver lächelte leise. Die fürsorgliche Art der Dienerin, nein: Freundin, tat gut. „Dann geh ich ins Bett.“
An diesem Abend rührte sich die Inderin noch rührender als sonst um Silver. Sie musste sie nahezu gewaltsam aus ihrem Zimmer befördern, nachdem Damayanti ihr alle Kissen aufgeschüttelt, einen Kakao gebracht, vorgesungen, sie in den Arm genommen hatte. All das erinnerte Silver schmerzlich daran, dass sie ihre eigene Mutter verloren hatte.
Als Damayanti endlich gegangen war, setzte sich Silver an den kleinen Kosmetiktisch in der Ecke. Das sanfte Licht der Wandlampen fiel auf den Spiegel und sie sah sich erstmals seit dem Nachmittag selbst. Ihr Auge war blau und geschwollen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ihr weh getan, nie aber hatte sie Spuren seiner Gewalt getragen. Warum nur war da, wenn sie in sich selbst forschte, kein Hass? Warum war da nur diese leere Traurigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte? War sie wirklich so dumm und stand zu ihm, nach allem was er ihr antat?
Wieder fielen ihre Gedanken darauf, was sie gesagt hatte, ehe sie den stechenden Schmerz gespürt hatte. Ein Seufzen verließ ihren Mund, als sie sich abwandte und alle Lichter löschte. Im Dunkel fand sie ins Bett, welches sich weich an ihren Leib schmiegte.
Die Kissen dufteten nach ihm und sie vergrub die Nase darin. Für einen Moment stellte sie sich vor, er liebte sie und behandelte sie entsprechend. Doch mehr als ein zynisches Lachen hatte sie für ihre eigenen Traumwelten nicht übrig. Er würde sie nie mögen, geschweige denn lieben oder gut behandeln. Aber was hatte sie dann gefühlt?
Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, von der anderen auf die eine. Sie versuchte zu schlafen, doch es mochte ihr nicht gelingen.
Ein leises Klopfen und das Knarren der sich öffnenden Tür, ließen sie aufmerken. Halb sitzend blinzelte sie.
„Damayanti, es ist alles gut. Ich versuch jetzt, zu schlafen.“
„Ich bins.“ Seine Stimme bescherte ihr eine Gänsehaut.
„Darf ich eintreten?“
„Es ist unser Zimmer.“ Erinnerte sie ihn und schob sich auf ihre eigene Seite. „Komm schlafen.“ Murmelte sie, als sie seinen müden Ausdruck im Schein des hereinfallenden Mondes sah.
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Momente der Stille entstanden. Sie konnte allein das Rascheln seiner Kleidung hören und sah, wie er sich in Unterwäsche zu seiner Seite des Bettes begab. Er lief, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern. Als er sich ins Bett gelegt hatte, starrte er lange ins Leere und Silver beobachtete ihn eine Weile. Vorsichtig bewegte sie sich, als könne sie ihn aufschrecken. Nach gefühlten Ewigkeiten kam sie neben ihm zum Liegen und schob ihren Kopf auf seine Brust. Sie hielt die Luft an als fürchte sie, wie er reagierte. Dann, als er seinen Arm um sie legte, atmete sie aus. Ihr Herzschlag beruhigte sich und nur Momente später schliefen sie friedlich ein. |