Kapitel 12
Die weiß bekittelten Ärzte eilten durch den Warteraum, wandten sich an Angehörige und spendeten Trost. Nathan konnte das immer wieder kehrende Schema beobachten. Entweder lächelte ein Arzt und alles war gut. Oder er ging auf die Angehörigen zu, legte eine Hand auf Schulter oder Arm und schüttelte bedauernd den Kopf. Dann ging der Arzt und überließ die Angehörigen ihren dunklen, ohnmächtigen Gedanken.
Und er hatte keine Lust, dass auch er bald schon diesen Armtätschler und das bedauernde Kopfschütteln erhielt. Nervös blinzelte er immer wieder in Richtung Operationssäle. Damayanti saß mit dem Fuß wippend in einem der Plastikschalensessel. Er selbst ging auf und ab, auf und ab. Lauernd, wie eine gefährliche Raubkatze. Bereit, sich auf Informationen zu stürzen. Silver befand sich nun bereits mehrere Stunden im OP und sie wussten gar nichts. Nicht, ob sie noch lebte. Nicht, ob sie durchkommen würde. Nichts. Und Nathan drohte an dieser Unsicherheit zu zerbrechen.
Er hatte ihr nicht ohne Grund untersagt, dieses verdammte Seelenwanderding durchzuziehen. Aber sie hatte ja nicht auf ihn gehört. Und nun lag sie halb tot in diesem Krankenhaus. Tränen schossen in seine Augenwinkel, doch er rieb sie rasch mit Daumen und Zeigefinger fort. Die Inderin musterte ihn besorgt. Nur sie allein wusste, wie schwach Nathan wirklich war. Sein konnte. Er hatte doch schon einmal so jämmerlich gelitten, wieso nun erneut? Die Götter, falls es sie denn gab, waren ihrem Herren nicht gnädig gestimmt.
Die Schwingtüren zum OP-Trakt glitten auf und ein dunkelhaariger Arzt mittleren Alters trat hindurch. Im ersten Moment nahm ihn Nathan kaum wahr, doch als der Mann direkt auf ihn zusteuerte, spannte er sich an und trat ihm entgegen.
„Geht es meiner Frau...?“
„Sie lebt. Aber von ‚gut’ können wir leider nicht unbedingt sprechen. Herr Nekrasov, setzen Sie sich doch bitte.“ Die Hand. Die verdammte Hand auf seinem verdammten Arm. Das war gar nicht gut. Doch Nathan setzte sich, beinahe wie in Trance.
„Sie hatte schwere innere Verletzungen und wir mussten sie notoperieren. Wir hoffen, dass ihr Zustand sich bessert. Momentan ist sie stabil. Wir konnten keine weiteren inneren Verletzungen ausfindig machen. Aber ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: es besteht nach wie vor ein erheblichen Risiko für die Patientin.“ Die Miene des Arztes schien unergründlich. Nathans hellblaue Augen starrten leer.
„Können wir zu ihr?“ Schaltete sich Damayanti ein. Der Arzt neigte leicht den Kopf. Wahrscheinlich war er sich nicht darüber im Klaren, wen er vor sich hatte. Da Nathan, als der nächste Angehörige, jedoch nicht widersprach, erteilte er Auskunft.
„Sie können zu ihr, sobald Sie wollen. Noch schläft sie jedoch tief und fest. Das wird auch noch weitere Stunden so bleiben.“ Er verschränkte die Arme über einem Klemmbrett, dass er nun vor seinem Bauch hielt. Der Arzt wirkte gestresst, wer konnte es ihm verdenken?
„Dankesehr.“ Damayanti neigte ihren Kopf leicht und legte dann den Arm um Nathan. „Lass uns zu ihr gehen, mein Junge.“ Und mit einem Blick zu dem Arzt fügte sie hinzu: „Vielen Dank, Herr Doktor.“
Der Arzt deutete einen Gruß an und verabschiedete sich zurück in den OP-Trakt. Eine ganze Weile sagte keiner der beiden etwas. Nathan schien, als habe er einen Geist gesehen.
„Sie wird mich auch verlassen, oder?“
„Nein, mein Junge. Und auch deine Mutter hat dich nicht verlassen. Das weißt du. Sie hätte dich niemals verlassen. Sie ist immer bei dir. In deinem Herzen.“ Damayanti strich eine der losen Strähnen aus Nathans Stirn und half ihm dann auf.
Das Krankenzimmer erschreckte Nathan. Die Wände waren kahl und kalt. Das hätte Silver niemals gefallen. Sie mochte warme Farben. Woher er das wusste? Keine Ahnung. Aber es fiel ihm auf, als er sie nun so in diesem sterilen Raum liegen sah. Ihre silbernen Haare lagen ausgebreitet auf dem gestärkten Kissen. Die Farbe unterschied sich kaum von den ebenfalls weißen Laken. Sie sah aus wie ein Kind. So schwach und zerbrechlich. Wie ein aus dem Nest gefallenes Küken. Er fluchte leise, doch Damayanti verstärkte den Druck auf seinen Arm und er verstummte.
Nachdem Damayanti sich davon überzeugt hatte, dass alle im Raum Anwesenden zumindest ein paar Stunden überstehen würden, wandte sie sich zum Gehen. „Ich werde jetzt nach Hause fahren, für dich kochen und dann mit Proviant und Kleidung zurück kommen. Tu ja nichts Unüberlegtes.
„Was soll ich denn tun? Sie wie Kingkong entführen und auf irgendeinen Wokenkratzer klettern?!“ fauchte Nathan zurück, schüttelte dann jedoch resigiert den Kopf. Als er sieben anheben wollte, etwas zu sagen, fuhr ihm die Dienerin bereits ins Wort: „Kein Grund sich zu entschuldigen, du stehst unter enormem Druck.“ Sie ging, ohne ein weiteres Wort und Nathan ließ sich auf den Stuhl fallen, den er direkt neben Damayantis Bett gestellt hatte. Zögerlich und zitternd nahm er ihre kalte Hand in die seine und streichelte sie behutsam mit seinem Daumen. Den Kopf legte er vorsichtig auf den Rand des Bettes und irgendwie musste er eingeschlafen sein, denn bald schon suchten ihn Albträume heim.
Ihre Hand fuhr vorsichtig durch das dichte Gewirr an schwarzen Locken. „Nathan?“ Ihre Stimme so leise, dass sie kaum zu hören war. Doch Nathan stöhnte leise auf, als habe er sie gehört. Sie wiederholte seinen Namen und streichelte ihn sanft. „Wach auf.“ Murmelte sie. Gern hätte sie ihn schlafen gelassen und wäre selbst ebenso zurück ins Reich der Träume gekehrt. Doch ihr Mann weinte im Schlaf und träumte ganz offensichtlich schlecht. Sie konnte und wollte ihn nicht in diesem Traum verharren lassen.
Allmählich kam Nathan zu sich. Er schlug die stahlblauen Augen auf und hob den Kopf, langsam. Silvers Hand rutschte ab und fiel zurück aufs Bett. Aus unergründlichen Augen musterte sie ihn und er selbst schien, als habe er einen Geist gesehen.
„Du bist wach.“
„Sieht so aus.“ Ihr Lächeln missglückte und erinnerte eher an den Joker aus Batman. Doch lange konnte sie gar nicht grinsen, denn im nächsten Moment befanden sich seine Lippen auf ihren.
„Du hattest so recht.“ Murmelte er, während seine Lippen eine kurze Pause eingingen. „Und du wärst fast draufgegangen, verdammt.“ Seine Stirn lehnte an der ihren und er lockerte seinen Griff. Er hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen, befürchtete nun jedoch, ihr Schmerzen zuzufügen.
„Ich hatte recht?“ fragte sie noch immer von seinen leidenschaftlichen Küssen atemlos. Er nickte bloß und stand dann auf, ging zum Fenster, kehrte zurück, nahm wieder ihre Hand, ging wieder zurück zum Fenster. Silver musste an ruhelose, eingesperrte Tiere denken und fragte sich, ob Nathan nicht besser dran wäre, wäre er ganz weit weg von ihr. Doch dann erinnerte sie sich an seinen drängenden Kuss und wusste, dass nicht sie ihn einsperrte. Es waren die tiefen Ängste, die sie in seinem Innersten vermutete.
„Mein Vater. Ich war bei ihm.“ Silver nickte, obwohl sie ihm nicht recht folgen konnte. Vielleicht hätte er ein solches Gespräch anfangen sollen, nachdem sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Doch sie bemühte sich, ihm zu folgen.
„Er hatte Blut an seinem Ärmel.“
„Und das ist deswegen so ungewöhnlich, weil er ein Vampir ist?“ Silver konnte sich das spöttische Lächeln nicht verkneifen, es verstarb jedoch als sie in Nathans Gesicht blickte.
„Du glaubst mir endlich?“ Sein Nicken, langsam und bedächtig, jagte ihr Schauer über den Rücken.
„Aber ich habe keine Ahnung, wie ich es beweisen soll.“ Murmelte er resigniert und sah auf seine Armbanduhr. „Und dem armen Mädchen läuft die Zeit davon.“
Silver stöhnte, als sie sich aufzusetzen versuchte. „Bleib doch verdammt noch mal liegen. Du hattest innere Blutungen.“ Nathan trat zu ihr und drückte sie sanft, aber bestimmt zurück ins Bett.
„Ich weiß, wie der Raum aussah. Und ich weiß, dass die Vampirin stark ist. Ich weiß bloß nicht, wie wir ihn überführen können.“ In Silvers Stimme lag eine unfassbare Traurigkeit. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als diesem Mädchen zu helfen. Doch sie lag hier, mit diesen Verletzungen, und konnte sich nicht einmal aufsetzen. Mit einem Mal durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn dem Mädchen die gleichen Verletzungen zugefügt wurden, wie ihr? Silvers Geist hatte sich wohl im Körper befunden, doch es war immer noch die junge Frau gewesen, die die ursprünglichen Tritte abbekommen hatte.
Nathan musterte sie nachdenklich. „Was hast du?“
„Was, wenn sie auch innere Verletzungen hat? Was, wenn nicht nur mein Geist diese Verletzungen davon getragen hat? Was, wenn....“
„Dann wäre sie tot.“ Nathan hätte gern etwas anderes gesagt, doch er war kalt und nüchtern – besonders wenn es um seinen Beruf ging. Er konnte es nicht zulassen, dass all die Emotionen ihn gefangen nahmen. Er wäre schon lange jämmerlich zugrunde daran gegangen.
„Wir müssen ihr helfen, irgendwie.“
„Das schaffen wir nicht allein.“ Nathans Gesicht schien hart, doch Silver glaubte darin die selbe Verzweiflung zu sehen, die auch in ihr wütete.
„Morgen werden wir uns etwas einfallen lassen.“ Ein wenig hellten sich seine Züge auf, doch er spürte nach wie vor diese Ohnmacht heraufbeschwörende Hilflosigkeit. „Ich werde gleich morgen...“
„Morgen ist es sicher zu spät. Wenn es das nicht schon ist.“ Murmelte Silver tränenerstickt, ihre letzten Worte so leise, dass man sie kaum hören konnte.
„Ich lasse dich nicht allein.“ Sagte er bestimmt und setzte sich zurück auf den Stuhl, ihre Hand in die seine gebettet. „Du bist wichtiger. Morgen sehen wir weiter.“
Silver hätte sich so gern dagegen gesträubt. Sie hätte ihn so gern sofort zum Haus seines Vaters geschickt. Oder zumindest andere Männer, Verstärkung, irgendwen. Konnte Nathan denn keinen Einsatztrupp zum Anwesen seines Vaters entsenden? Doch sie hatte die Kraft nicht, gegen ihn aufzubegehren. Also fiel sie zurück in tiefen Schlaf.
|