Kapitel 15
Meine Lunge fühlte sich an, als hätte ich einen Marathon hinter mich gebracht. Dabei war ich bloß von der Tür zum Auto gelaufen, eingestiegen und hatte mich in den abendlichen Berufsverkehr eingefädelt. Silver hatte ich zurückgelassen, wieder einmal. Und es schmerzte mich, dass ich sie erneut verletzt hatte. Doch ich konnte nicht untätig herum sitzen, während mich irgendwelche Ganoven in der Hand hatten und ihr Leben bedrohten. Ich musste zum Präsidium und den Fall irgendwie wieder in meine Hand bekommen. Natürlich konnte ich ihn nicht einfach einfrieren, das würde die Kollegen misstrauisch machen. Doch ich konnte die Ermittlungen so boykottieren, dass die Täter nicht gefunden wurden und irgendwann, wenn genug Zeit verstrich, wurde die Akte ohnehin als cold case in die Archive gelegt.
Ich hätte mich bei der Fahrweise der Vampire um mich herum normalerweise aufgeregt, doch meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Mein Körper schmerzte mehr, als ich zugeben wollte. Natürlich, ein Körper wie der meine regenerierte rasch. Vor allem im Vergleich zu Silvers Körper. Sie war ja nur ein... Was hatte ich da eigentlich gesagt? Ich hatte sie verletzt, das wusste ich. Und das war noch bei weitem schlimmer als die physischen Schmerzen, die ich jetzt ertragen musste. Wahrscheinlich waren sie meine gerechte Strafe Gottes.
Das gleichmäßige Klicken des Blinkers wirkte beruhigend, als ich von der Hauptstraße abfuhr und auf die kleinere Nebenstraße glitt, in der das Präsidium lag. Den Wagen parkte ich wie gewohnt auf meinem Platz und unter Mühen zwang ich mich aus dem Auto. Verdammt, die Kerle hatten mich ordentlich zusammen geschlagen.
Als ich die Tür, die ohrenbetäubend quietschte, öffnete, fühlte ich mich, als sei ich in einem Bienenstock angelangt. Überall summte und brummte es, die Kollegen stürmten an mir vorbei und es war hektisch, verdammt hektisch. Als Bob, einer meiner Leute, an mir vorbei stürmte, zog ich ihn zu mir.
„Boss. Schön Sie zu sehen, wie geht es Ihrer Frau?“ Was mochten die hier bloß von mir denken? Ich, der eiskalte Nathan Nekrasov, hatte wegen meiner kranken Ehefrau eine Pause eingelegt. Das passte nicht zu mir.
„Ihr geht es den Umständen entsprechend, aber...“
„Was ist mit Ihnen passiert?“ Jetzt erst hatte der jüngere Vampir meine Verletzungen gesehen, mit schreckgeweiteten Augen starrte er mich an. „Hey, Nick. Schau mal, der Boss ist hier.“ Rief er über die Schulter, ohne den Blick von mir zu weichen. Es kam wie es kommen musste: das Summen erstarb und die ganze Belegschaft wandte sich zu mir und sah, notgedrungen, die Verletzungen die ich davon getragen hatte. Schließlich war mein Gesicht ganz grün und blau von all den Tritten. Ein Glück, dass die nicht unter mein Shirt sehen konnten. Es genügte schon, dass auch im V-Ausschnitt des Hemdes klar zu sehen war, dass nicht nur mein Gesicht etwas abbekommen hatte.
„Nichts Schlimmes, bloß eine kleine Kneipenschlägerei.“ Versuchte ich von der Realität abzulenken, ehe sie sich selbst zusammen reimten, was mein Auftritt hier sollte. Dies waren die fähigsten Männer im Land, sie kümmerten sich mit mir darum, dass unsere Rasse nicht erneut unter das Joch von anderen Wesen kommen konnte. Sie kümmerten sich um das Wohl ihrer Leute. Und natürlich waren sie alle schlau genug, sich auf kurz oder lang zusammen zu reimen, was mir eigentlich passiert war.
„Ich wollte nur fragen, wie es um den Fall steht.“
„Da müssen Sie Clinton fragen, Sir.“ Ich nickte und ging auf die Suche nach jenem Mann, den ich zu meinem Stellvertreter bestimmt hatte. Er stach aus der Masse heraus. Vampire waren meist schön, doch Tom Clinton war noch viel schöner. Sein glänzendes, schwarzes Haar trug er in feinen Locken etwa schulterlang. Ein drei-Tage-Bart zierte seine maskulinen Züge und unterstrich das Herbe an seinem Gesicht. Seine dunklen, tiefgründigen Augen verliehen ihm stets einen etwas traurigen Ausdruck. Ich fand ihn schnell.
„Tom, hey.“ Ich schüttelte ihm die Hand und biss dabei die Zähne zusammen, die Bewegung schmerzte.
„Boss, schön Sie zu sehen. Oder auch nicht. Was ist denn passiert?“
„Nichts weiter, Kneipenschlägerei, mehr nicht.“ Ich winkte wenig überzeugend ab. „Aber wie stehts um den Fall.“
„Was das anbelangt, Sir, ist hier die Hölle los. Ein weiteres Mädchen ist verschwunden.“
Unter den gegebenen Umständen war es nicht schwer, den Fall wieder zu übernehmen. Ein kurzes Gespräch mit dem Oberboss später, war ich zurück an vorderster Front. Ob mir das gefiel, stand auf einem ganz anderen Blatt geschrieben. Ich hatte kein gutes Gefühl. Ich wusste, ich würde die Ermittlungen blockieren. Silver und Damayanti zu liebe; jene zwei Frauen, die ich mehr liebte als mein eigenes Leben. Doch was, wenn das heraus käme? Noch schlimmer jedoch nagten die Gewissensbisse an mir. Es war ein weiteres Mädchen verschwunden und wenn ich in die Tat umsetzte, was ich vor hatte, würde man sie auch niemals finden. Und ich war Schuld.
Ich trommelte nervös aufs Lenkrad, als ich zurück nach Hause fuhr. Ich hatte ganz vergessen, dass ich Silver in einem gekränkten, ja verletzten Zustand zurück gelassen hatte. Ich konnte gar nicht ausdrücken, wie leid es mir tat. Doch sagen würde ich ihr das nicht können, dazu kannte ich mich selbst zu gut. Wieso brannten regelmäßig all meine Sicherungen durch? Vor allem, wenn es um sie ging? Ich hasste es. Ich hasste mich. Und ich hasste das Monster, dass ich manchmal sein konnte. Damayanti hatte gesagt, das liege nicht an mir. Der Dämon meiner Vergangenheit habe mich in seinen Klauen. Doch ganz gleich, wessen Schuld es war – und ich war mir sicher, es war meine – dieser Zustand war einfach nicht aufrecht zu erhalten. Etwas musste sich ändern, schnell. Ehe ich sie weiterhin verletzte, oder gar Schlimmeres geschah.
Ich trat durch die Eingangstür, nachdem ich den Wagen im Innenhof geparkt hatte. Mich hatte ein mulmiges Gefühl beschlichen, als ich zuerst erneut auf der offenen Straße hatte parken wollen. Was, wenn die Kerle zurückkehrten? Ich war kein Angsthase, aber ein paar gebrochene Rippen pro Tag waren durchaus genug. Ich betrat das Haus und mein Blick fiel sofort auf Silver, die auf dem Sofa zusammengekauert saß und las. Ihre Blicke schossen hoch, als sie mich bemerkte. In ihren Augen lagen zuerst Wärme und Zuneigung, doch diese Emotionen wurden rasch abgelöst durch die Verletztheit, die ich verschuldet hatte.
„Da bist du ja wieder.“ Sagte sie in einem eisigen Ton, der mir eine Gänsehaut bereitete.
Schuldbewusst neigte ich den Kopf, um ihr nicht in die anklagenden Augen sehen zu müssen, die sich nun zu einem kalten Grau verschleiert hatten. „Ich war auf dem Präsidium, wie ich schon sagte.“
„Du hast den Fall abgegeben und daher dort im Moment nichts zu...“
„Ich habe den Fall wieder aufgenommen, es war notwendig.“
„Aber...“
„Ich kann das nicht mit ansehen, Silver. Diese Mädchen werden gefoltert und verstümmelt, umgebracht und missbraucht. Ich kann nicht ruhig hier sitzen, während dort draußen ein Irrer herum läuft.“ Ich hatte mich in Rage geredet und meinte jedes Wort, wie ich es sagte. Und doch würde ich den Fall boykottieren. Es fuhr mir wie ein Stich ins Herz. Nicht zuletzt deshalb, weil Silvers Blicke nun weicher wurden und sie auf mich zutrat.
„Ich kann dich verstehen, aber ich habe Angst um dich.“ Ihre langen Arme schlangen sich um meinen Nacken, während sie ihre Stirn an meine Brust senken ließ. Mein Herz begann vor Freude und Aufregung, aber auch vor schlechtem Gewissen zu rasen. Selbst wenn ich ihr sagte, dass ich all das nur zu ihrem Schutz tat, würde sie mich verachten. Letztendloch würde ich daran Schuld sein, wenn weitere Mädchen verschwanden.
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